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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Tante zu danken, daß ein Umgang der jungen Mädchen mit Felix sich freier und ungenirter gestalten könne, wenn das „Kind“ ihn vermittelte.

Nun war Mimi glückselig angekommen und ward nicht müde, ihre schönen Schwestern, die sie immer nur vorübergehend gesehen hatte, zu bewundern; sie wußte nicht, ob sie die zarte Elfriede oder die lebensvolle pikante Bertha schöner finden sollte.

„Armes kleines Ding,“ sägte Elfriede, nachdem der erste Sturm der Begrüßung etwas reservirt zurückgeschlagen worden war und die Ankommenden sich mit Kaffee erfrischt hatten, „wie schaust Du jämmerlich in der abscheulichen Pensionskleidung aus! Wir haben frische schöne Sommerkleidchen mit – da kann sich der bunte Schmetterling aus der Raupe entpuppen.“

„Ich finde es unrecht, daß man Mimi ihres zweckmäßigen Anzugs entkleiden will,“ meinte Bertha, „er ist bequem und kennzeichnet ihr kindliches Alter. In Modekleidern wird sie wie eine junge Dame aussehen, und wir werden das Vergnügen haben, als die drei Grazien aufzuziehen.“

Mimi lachte laut.

„Beruhige Dich, Berthel! Mich hält kein Mensch für eine Dame, auch wenn Ihr mir seidene Schleppen anziehen wolltet. Auch verlange ich vorläufig gar nicht darnach.“

„Wenn Du auch noch Kind bleiben darfst, Mimi, so ist es Dir doch nicht gestattet, Dich wie eine Wilde zu benehmen,“ mischte sich die Baronin, die bis dahin leise mit Mademoiselle gesprochen und von dieser die ganze Ungeheuerlichkeit des Benehmens der weltunkundigen Nichte erfahren hatte, in’s Gespräch. „Wie ist es nur möglich, daß ein Mädchen von Deiner Erziehung sich so ohne Weiteres mit einem wildfremden Herrn in ein intimes Gespräch einlassen kann ja – es ist kaum zu glauben – ihn nöthigen mag, sich neben sie zu setzen!“

„Aber mein Himmel, die Sonne schien so entsetzlich, und man hat mich immer gelehrt, aufmerksam und gefällig zu sein. Gelten denn die Regeln, die man uns in der Pension giebt, nicht auch für das Leben?“

„Aber mon Dieu,’“ rief die Tante entsetzt, „weißt Du denn nicht, daß man Herren, noch dazu jungen Herren, nie entgegen kommen darf, daß ein junges Mädchen ihnen gegenüber nicht reservirt und kühl genug sein kann?“

„Nein, Tante Waldenburg, das weiß ich nicht. In der Pension sah ich ja keine andern Herren als unsre Lehrer, und die glauben sich doch contractlich berechtigt, Liebenswürdigkeit zu ernten. Aber meinetwegen mögen künftig sämmtliche Herren der Schöpfung in der Sonne braten; ich erlöse sie nicht mehr.“

„Kind, ich fange an zu fürchten, daß ich noch viel an Dir zu erziehen haben werde, Deine burschikose Art befremdet mich.“

Mademoiselle beeilte sich zu versichern, daß Mimi’s Ausdrucksweise nur der Ausfluß ihrer übermüthigen Natur, keinesfalls das Resultat einer Erziehung sei, die sorgsam bedacht sei, alle wilden Schößlinge der jungen Stämmchen zu entfernen.

In diesem Augenblicke fuhr der Omnibus, der die Besucher des Chiemsees von der Bahn zum Ufer desselben führt, an dem Gärtchen vorüber, in dem die Damen saßen; ein junger Herr lüftete im Vorbeifähren den Strohhut und grüßte Mimi freundlich.

„Das ist mein Erlöster,“ erklärte sie den Schwestern.

„Felix!“ rief zu gleicher Zeit die Baronin. „Ja wahrhaftig, das ist Felix. Ich hätte ihn kaum erkannt – so sehr haben die Jahre ihn zum Manne gereift. Wir erwarteten ihn erst morgen – welche Ueberraschung! Nun Gottlob, daß Du mit Deiner Unvorsichtigkeit an einen Verwandten gekommen bist, Mimi!“

Die Entdeckung, daß der interessante Vetter und der Reisegefährte Mimi’s ein und dieselbe Person waren, machte die kleine Schwester mit einem Male zum Mittelpunkte des Kreises. Elfriede und Bertha konnten nun nicht müde werden, nach seinem Aussehen, seinem Benehmen, seinen Worten zu fragen, und sprachen auch auf dem Wege zum Dampfschiff, den man einschlug, sobald die Französin mit dem nächsten Zuge nach M. zurückgekehrt war, von nichts anderem als von ihm. Mimi aber dachte: „die Tante hat gesagt, junge Mädchen müßten jungen Herren gegenüber kühl und reservirt sein, aber wenn sie von ihnen sprechen, scheint man ihnen zu erlauben, sich sehr warm nach ihnen zu erkundigen; denn die Tante unterbricht der Schwestern Fragen nie. Ich werde mir das merken.“


3.

Vor dem malerisch gelegenen „Gasthause“ der Insel Frauenwörth im hellgrünen Chiemsee fand sich die zukünftige Reisegesellschaft, Baronin Waldenburg mit Nichten und dem Neffen, zusammen. Schnell hatte die weltgewandte Frau den alten Ton der Verwandtschaft diesem gegenüber wiedergefunden, und bei den jungen Damen schmeichelte sich die gewinnende, stattliche Erscheinung des Jünglings im ersten Augenblicke ein. Wie alte Freunde saß man auf der kleinen, zauberhaften Insel bei einander; angenehm kühlend wehte ein Lüftchen durch die dichten Zweige der alten Bäume, welche die wenigen Sitze vor dem Hause beschirmen; die scheidende Sonne übergoß die schimmernde Fluth mit goldenem Schein, und tausend blitzende Fünkchen tanzten auf und nieder auf den krystallenen Wellen.

Unsere Reisenden aber schienen sich wenig um die anmuthige Schönheit des Ortes zu kümmern, nach ein paar Ausrufen hergebrachten Entzückens vertiefte man sich in eine sehr belebte Conversation, in welcher Familienverhältnisse, Hof- und Stadtgeschichten, Bälle, Theater und Concerte bunt durch einander gewürfelt wurden.

Nur Mimi saß in stummem Entzücken da, die Schönheit des harmonischen Bildes, voll und ganz in sich aufnehmend.

„Ah, sieh da, meine kleine freundliche Reisegefährtin!“ hatte Felix sie beim Wiedersehen begrüßt und ihr, wie einer alten Bekannten, herzhaft die Hand gegeben.

„Ja, Sie dürfen wohl recht freundlich mit mir sein, Vetter,“ hatte das Mädchen zum Entsetzen der Tante geantwortet; „habe ich doch Ihretwegen den ersten Zank bekommen.“

Die Baronin hatte sich über die Verlegenheit, welche diese neue Naivetät Mimi’s ihr bereitete, zwar schnell mit einem Scherze fortgeholfen, nichtsdestoweniger aber wurde der kleinen Unbequemen zu verstehen gegeben, daß sie sich fortan schweigsam zu verhalten habe.

Da saß nun das ungeduldige Kind und scharrte unruhig mit den Füßen – war es doch in die Welt gereist, um viel zu sehen und zu erleben, und saß nun da festgebannt und mußte Gespräche anhören, die es ganz und gar nicht interessirten.

Endlich hielt die kleine Ungeduld es nicht länger aus.

„Tante,“ rief sie, „dort sehe ich schöne Sternblumen – darf ich sie pflücken?“

„Aber so allein –“

„Wir sind ja auf dem Lande,“ bat Elfriede, welche die kleine Vorlaute los sein wollte.

„Und Mimi ist ja ein Kind,“ betonte Bertha.

„Nun, so geh!“ gewährte die Baronin, „aber entferne Dich nicht zu weit von uns!“

„Das wäre ein Kunststück, gnädigste Tante,“ entgegnete der junge Mann lächelnd, „das kleine Eiland ist in einer Viertelstunde ganz umschritten.“

Wie der Wind war Mimi auf und davon; Entdeckungsreisen wollte sie machen. Nun, und wer nur einmal die kleine, eigenartige Insel besucht hat, der weiß, daß sie ein kleines Zauberreich ist, wo sich auf Schritt und Tritt ein anziehendes Bild, in jedem Winkelchen Neues und Originelles findet.

Rechts, vom Gasthause aus, hatte Mimi das kleine Eiland durchstreift und sich einen großen „Buschen“ schön duftenden Klees von dem einzigen Felde der Insel gepflückt. Von weitem spähte sie nach ihren Angehörigen; noch saßen sie in voriger Weise und hatten es eifrig mit der Unterhaltung. Die Sonne färbte scheidend die Gipfel der Berge immer schöner – Mimi sah es – sie begann ihre Wanderung nach der anderen Seite des Eilandes. Da war es zuerst das Kloster, das sie interessirte, denn es war eine Erziehungsanstalt darin; dann die alte Kirche und der kleine, melancholische und doch so poetisch daliegende Friedhof gefielen Mimi ungemein; die blumenduftenden Gräber mit den schlichten Kreuzen gaben ein so ernst schönes Bild in dem blitzenden Rahmen des Sees. Sie las die Inschriften der Gedenktafeln: Arm und Reich, Alt und Jung lag hier bei einander.

Ein Kreuzlein auf einem ganz frischen Grabe trug den Namen einer Sechszehnjährigen, die hier in der Klosterpension gestorben war. Mimi jammerte das Loos der Frühdahingeschiedenen; fortzugehen aus einem Leben, das man noch gar nicht kannte – o das mußte hart sein. Und von dem anstoßenden Raine pflückte sie einen Strauß rother Mohne, weißer Mariensterne und blauer Komblumen und schmückte die Grabstätte des fern von den Eltern gestorbenen Kindes.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_619.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2021)