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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


No. 40.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Spätsommer.

Novelle von C. von Sydow


„Im Schatten der Entsagung wächst der Wille;     
Das Leben blüht im Sonnenschein des Glücks.“
1.

„Ja, meine Herren, es ist Mai; in diesem Jahre weiß auch ich einmal mit dem Fortgange des Frühlings Bescheid, denn – ich bin umgezogen,“ äußerte im Fluge der Unterhaltung, welche bei einem eiligen „Frühschoppen“ stattfand, der Architekt Arndt gegen einige Bekannte, mit denen er des Vormittags in einem Locale der Hauptstadt zusammen zu treffen pflegte.

„Umgezogen? Mit oder ohne Familie?“ fragte ein älterer Herr.

„Ohne! Ich habe die bevorstehenden Monate schärfer zu arbeiten, als sonst; deshalb mußte ich mich von der Mutter und den Geschwistern einstweilen trennen, um unabhängig zu sein.“

„Haben Sie die Wohnung mit dem Gärtchen genommen?“ erkundigte sich ein jüngeres Mitglied der Tafelrunde.

„Ja, die ‚mit dem Gärtchen‘!“ erwiderte Arndt, flüchtig lächelnd. „Ich würde Ihnen dieses Stückchen gepachteten Residenzfrühlings von Herzen gern überlassen.“

„Ich bin es gewohnt, daß man in Berlin über meine Naturschwärmerei spottet,“ meinte der junge Mann aus der Provinz bescheiden.

„Ah!“ sagte Arndt, indem er nach der Uhr sah und sich hastig erhob, „Sie nennen solch ein Bischen gedrechselten Strauchwerkes ‚Natur‘? Wir Berliner denken höher von der Natur, obgleich wir sie nicht kennen. Wir sind eben in Allem blasirt. – Auf Ihr Wohl, meine Herren!“ Bei diesen Worten stürzte er den Rest seines Seidels hinunter, grüßte und entfernte sich.

Arndt war stets der Letzte, welcher kam, und der Erste, welcher ging. Aber wenn er einmal ganz fehlte, fühlte man sich unbehaglich. Er war entschieden ein bedeutender Mensch, und wenn er keinen sehr ausgiebigen Gesellschafter abgab, so lag das in seinen besonderen Verhältnissen.

Die Mitglieder des „Frühschoppens“ waren durchaus einer und derselben Meinung, was die Vorzüge Georg Arndt’s betraf.

Fast seit er erwachsen war, hatte er als ältester Sohn einer verwaisten Familie für den Lebensunterhalt der Seinen zu sorgen gehabt. Seine Kräfte – die physischen wie die moralischen – waren an dieser Aufgabe erstarkt, aber die stolzen Träume eines lebhaften Knabenherzens vor den harten Anforderungen der Pflicht zu Schanden geworden. Arndt’s Charakter hatte in den Kämpfen des Lebens Nahrung gefunden, aber seine Phantasie hatte hungern müssen. Statt – wie es ein junger Architekt doch soll – über Länder und Meere zu ziehen und die großen Nationalbauten der Völker unter ihrem heimischen Himmel zu schauen, oder die Denkmale eines einzelnen Genius dort zu erblicken, wo die Natur sie dem Geiste des Künstlers gleichsam vorgedacht hat, und sie nun wie in dankbarer Huldigung mit einer stillen, großen Harmonie umgab – statt an alle jene Orte zu gehen, welche seinen Geschmack gereift und sein architektonisches Urtheil erweitert haben würden, hatte er sich und seine Fähigkeiten auf den gemeinen Markt des Lebens zu stellen gehabt.

Er hatte es gern gethan, weil er der Stimme einer natürlichen Pflicht gehorchte und die Seinen liebte, wie jeder Starke den Schwachen liebt, welchem er wohlthut – ja, er hatte es gern gethan, weil er sich trotz alledem zu seiner Aufopferung zwingen mußte und es keine größeren Triumphe giebt als Selbstüberwindung. Aber je größer der Triumph, desto heißer wohl auch der Kampf, welcher ihn erringt. Die ironischen Falten und Fältchen um Arndt’s Mund und Schläfe waren die Narben der tief in das Lebensmark einschneidenden Wunden, welche ihm solch ein Kampf wieder und wieder geschlagen hatte.

Wer Arndt indessen einmal kannte, so wie er jetzt war, hätte diese ironischen Fältchen kaum entbehren mögen, denn sie machten sein regelmäßiges Gesicht, das im Uebrigen – wie auch seine ganze Erscheinung – etwas monumental Großartiges hatte, erst zu dem, was man „interessant“ nennt.

Auch hatte die Ironie des Architekten Arndt weder eine ätzende Schärfe, noch einen geistreich decorativen Anstrich, obgleich sie aus Resignation geboren war. Das lächelnde Berühren schmerzlicher Gegensätze gehörte nur in so weit zu seinem thatkräftigen Wesen, als auch ein intimer Freund gewissermaßen zu uns selbst gehört: der tägliche Gedankenaustausch mit ihm ist uns ein Bedürfniß geworden, doch der Kern des Wesens kann dabei selbstständig bleiben.

Einige Tage nach dem gelegentlichen Gespräch über seinen Wohnungswechsel wurde Arndt auf der Straße von dem jungen Manne aus der Provinz angeredet und bis in die unmittelbare Nähe seines neuen Domicils begleitet. Der „Naturschwärmer“ brachte alsbald wieder das Gärtchen auf’s Tapet und gestand, daß er Arndt täglich mehr um die Erlaubniß seines Wirthes beneide, dasselbe benutzen zu dürfen.

Der Architekt schenkte den Reden seines Begleiters nur eine sehr getheilte Aufmerksamkeit, denn er hatte den Kopf voller Geschäfte.

„Ja, ja,“ sagte er schließlich, „ich gebe Ihnen zu, daß ich in der Betrachtung des Gärtchens wieder höchst anspruchsvoll bin. Ich liebe aber nun einmal keine halben Genüsse – vielleicht, weil ich niemals in der Lage war, eine halbe Arbeit zu thun.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_653.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)