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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

sonst aber kein öffentliches Stimmrecht besaßen, darüber abgestimmt wurde, ob überhaupt die Schankgerechtigkeit verliehen werden sollte oder nicht.

In diesem Jahre hat nun die Temperenzbewegung so große Dimensionen angenommen, wie nie zuvor, weshalb denn auch die beiden großen politischen Parteien der Vereinigten Staaten, die der Republikaner und die der Demokraten, davon nicht unberührt geblieben sind. In einer ganzen Reihe von Staaten, z. B. in Ohio, New-York, Pennsylvanien, Michigan, Illinois, Kansas, Missouri, Indiana, Vermont, Maine und Californien, werden im October und November dieses Jahres wichtige Staatswahlen stattfinden, die mit Recht als Vorläufer der im Jahre 1884 vorzunehmenden Präsidentenwahl angesehen werden. Fast überall kämpft das deutsche Element gegen die Temperenzbewegung; dasselbe wird sich daher von der republikanischen Partei, für die es bis dahin in seiner Mehrzahl einzutreten pflegte, lossagen, sobald diese Partei die Temperenzler unterstützt; es wird, so lange keine dritte große Partei in’s Leben gerufen ist, mit den Demokraten stimmen, wenn diese nur irgendwie ehrenhafte und fähige Candidaten für die öffentlichen Aemter in’s Feld stellen.

Die Temperenzfrage hat nun, wie theilweise schon aus dem Gesagten hervorgehen dürfte, nicht nur eine hohe sittlich-politische Bedeutung, insofern sie die individuelle und municipale Freiheit nahe berührt, sondern sie ist auch von großer finanzieller Wichtigkeit. Suchen wir diesen letzten Punkt durch wohlverbürgte statistische Angaben etwas näher zu begründen!

Die Ausgaben für die Verwaltung der Vereinigten Staaten, ohne die Abzahlung der Zinsen der öffentlichen Schuld der Union, betrugen im Jahre 1879 die Summe von 161,619,934 Dollars; im Jahre 1881 beliefen sie sich auf 178,204,146 Dollars; in dem am 30. Juni 1883 abschließenden Fiscaljahre endlich, für welches der letzte Congreß, der im August dieses Jahres aus einander ging, Verwilligungen gemacht hat, summiren sich die gewöhnlichen Ausgaben, die Zinsen auf die Nationalschuld immer abgerechnet, auf 294,513,639 Dollars. Das sind extravagante Verwaltungskosten, die, statt abzunehmen, stets größer wurden. Zur Bestreitung der für das Jahr 1879 genannten Verwaltungsausgaben zahlten nun die von den Temperenzlern bedrohten Getränke 63,299,605 Dollars; nehmen wir dazu die Eingangszölle etc. auf fremde Biere und Weine, so kommen wir zu einer Summe von mehr als[WS 1] 70 Millionen Dollars; mithin deckten die Steuern und Zölle auf Getränke im Jahre 1879 fast die Hälfte der Administrationskosten der Vereinigten Staaten. Aehnlich verhält sich dies im Jahre 1882, da nach uns vorliegenden officiellen Zahlen die Bierproduction in Amerika ganz bedeutend gestiegen ist. Falls nun die Temperenzbewegung in der ganzen Union siegte, so müßte der dadurch hervorgerufene Ausfall von Steuern durch anderweitige neue Steuern gedeckt werden, obgleich man schon jetzt mit Recht im Volke eine Herabminderung der Steuern verlangt. Aber hiermit nicht genug, auch eine ganze Reihe von Gewerbe- und Productionszweigen würde durch die Temperenzpolitik, wenn sie auch nur in mehreren Einzelstaaten der Union siegte, schwer leiden müssen: die Farmer, welche Gerste, Roggen, Mais, Hopfen, Wein etc. bauen, ferner die zahlreichen Inhaber von Brennereien, Destillerien, Hopfenhandlungen und Mälzereien, die Küfer, die Kupferschmiede, die Messinghändler, die Angehörigen der Baugewerke, der Eisgeschäfte, die Kohlen- und Holzhändler – alle diese Leute und zahllose Arbeiter, die in Brauereien und Brennereien beschäftigt sind, würden durch einen weitgreifenden Sieg der Temperenzler und ihrer Prohibitionspolitik, wenn nicht geradezu brodlos, so doch arg geschädigt werden. Mehr aber noch, als diese finanziellen und materiellen Schäden hat die Beschränkung der individuellen und municipalen Freiheit, hat ferner die Gefährdung der wahren Sittlichkeit durch das Temperenzunwesen zu bedeuten, und dies ist der Hauptgrund, weshalb das deutsche Element in den Vereinigten Staaten die Temperenzbewegung so bitter bekämpft.

Mit Recht sagte der alte, unlängst verstorbene Friedrich Münch, der in den dreißiger Jahren nach Amerika ausgewandert war, sich als Farmer und Weinbauer im Staate Missouri niedergelassen hatte, und während des Secessionskrieges dem Schreiber dieser Zeilen nahe befreundet wurde:

„Ein Volk, welches sich seiner Freiheit rühmt, muß auch bereit sein, den freiheitlichen Grundsatz folgerichtig, nicht etwa nur stückweise, zur Ausführung zu bringen. Der Bürger eines freien Gemeinwesens ist berechtigt, in allem seinem Thun sich selbst zu bestimmen, vorausgesetzt, daß er den Rechten keines Andern zu nahe tritt und daß er seine bürgerlichen Verpflichtungen erfüllt. Gegen die letztere Voraussetzung wird nicht dadurch verstoßen, daß ich mich kleide und bette, daß ich esse und trinke, wie ich will – dies ist allein meine eigene, keines Anderen Sache. Wo bliebe die Folgerichtigkeit und wo wäre die Grenze, wenn in diesen und ähnlichen Dingen der freie Bürger unter Bevormundung gestellt werden sollte? Freilich mag bei dieser Zwanglosigkeit manches Unerwünschte vorkommen, wie Verweichlichung, Prunksucht, Schlemmerei, Trunkenheit etc., aber der äußere Zwang bessert hier nicht das innere Wesen oder die sittliche Gesinnung, woraus unser Handeln fließen soll – er befördert vielmehr nur Heuchelei und heimliche Sünden.“

Und diese Heuchelei, diese heimlichen Sünden sind es gerade, welche die Deutschen in den Vereinigten Staaten gegenwärtig, wie sie es früher bei ähnlichen Gelegenheiten thaten, den Temperenzlern gegenüber bekämpfen, die sich namentlich auf den bigotten, frömmelnden Puritanismus des heuchlerischen Yankeethums stützen. Dazu kommt, daß mit diesem Yankeethum sich auch am liebsten das fremdenhasserische Knownothingthum (Nichtswisserthum) verbindet, welches nichts mehr haßt als den deutschen Freisinn und die deutsche Gradheit. Die Auswüchse der natürlichen Selbstbestimmung sollen und müssen beseitigt werden durch geistige und sittliche Emporhebung des ganzen Volkes, durch vernünftige Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, durch ein veredeltes Familienleben, durch Weckung des Pflichtgefühls, durch jede Art von wohlthätiger Anregung, nicht aber durch unsinnige Zwangsgesetze, welche verbieten wollen, daß man statt Wasser oder Buttermilch einmal ein Glas Wein oder Bier genießt. Eine heuchlerische Frömmigkeit, eine durch Staatsgesetze erzwungene Enthaltsamkeit hat so ganz und gar nichts mit wirklicher Religiosität und Sittlichkeit zu schaffen, da sie vielmehr häufig dazu beiträgt, dem Menschen das letzte Fünkchen gesunder Moral auszulöschen.

Treffend sagt der Berliner Professor Dr. Berner in seiner „Lehre von der Theilnahme am Verbrechen“:

„Wir finden noch täglich eine abergläubisch-pietistische Religiosität Arm in Arm verschlungen mit der größten Nichtswürdigkeit. Lebt doch die giftige Kröte des Pietismus und des Muckerthums nirgends lieber, als in dem versteckten, schlammigen Sumpfe der Unsittlichkeit. Das vernunftstrahlende helle Auge des Geistes, der das Maß der Dinge erkennen und bewahren soll, ist ja durch die dichten Nebel dieser unheimlichen Atmosphäre umnachtet und eine vollständige Erblindung desselben, eine klägliche Verwirrung der Begriffe von gut und böse, von heilig und unheilig ist das nothwendige Resultat eines längern Verweilens in diesen stehenden moralischen Pfützen.“

Eine Illustration zu diesen vielleicht harten, aber jedenfalls wahren Worten des genannten Rechtslehrers an der Universität zu Berlin lieferte in der im Juli dieses Jahres abgehaltenen Staatsconvention der demokratischen Partei in Missouri der frühere Sclavenhalter und heimliche Trunkenbold Henry Clay Dean. In der erwähnten Convention, deren Aufgabe es war, für die bevorstehenden Wahlen eine Principienerklärung abzufassen, kam auch die Temperenzfrage zur Sprache. Alsbald erhob sich ein heftiger Streit darüber, ob diese Frage politischer Natur sei oder ob sie nicht vielmehr dem Bereich der Moral angehöre, womit eine politische Partei als solche nichts zu thun habe.

Die Vertreter der Stadt St. Louis, der großen und reichen Metropole des Mississippithales, in welcher das Deutschthum durch Intelligenz, Handel und Industrie seit Jahren stark vertreten ist, sprachen sich dahin aus, daß man die Temperenzfrage fallen lassen solle, weil jeder Versuch, die Tugend der Mäßigkeit durch Zwangsmaßregeln zu erzwingen, die freiheitliche Basis einer weisen republikanischen Regierung untergrabe.

Da erhob sich der alte, aus dem Secessionskriege bekannte Rebell und heimliche Whiskyfreund Dean und erklärte unter Anderem:

„Wenn die demokratische Partei nichts weiter sein soll, als ein Bollwerk für das deutsche Votum, dann hat sie keinen Werth. Die Weigerung, für die Temperenzbewegung Partei zu ergreifen, soll nur dazu dienen, die Stimmen der deutschen Ungläubigen (Infidels) zu gewinnen. Wir haben lange Zeit ohne die deutschen Stimmen gelebt und werden es auch fernerhin können. Die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ols
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verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_686.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2023)