Seite:Die Gartenlaube (1882) 703.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Wir waren über die große Scheidegg hinaus und hatten noch nichts gesehen. So unmittelbar neben den herrlichsten Panoramen vorüberzugehen, ohne sie zu erblicken, ist eine Schickung, die man nicht so leicht stumm erträgt: wir verwünschten laut unser Mißgeschick und beschworen alle Wetterheiligen, endlich mit ihrer Ungunst einzuhalten. Plötzlich, ohne alle Vorbereitung, zerriß der Nebelschleier von oben bis unten, schob sich wie eine Theatergardine nach beiden Seiten aus einander und ließ das Wetterhorn vom Fuße bis zum Gipfel frei und unmittelbar vor uns in seiner ganzen Majestät aufsteigen. Das war nun eine Wundererscheinung, die uns für alles Erduldete reichlich entschädigte; denn da unser Auge nicht durch stundenlanges Vorhererblicken und langsame Annäherung allmählich an die Großartigkeit der Erscheinung gewöhnt worden war, stürmte der Anblick über alle Maßen überraschend, ja überwältigend auf uns ein, und diese ergreifende Gewalt wurde noch dadurch vermehrt, daß er nicht länger währte, als die sogenannten Apotheosen der Feerieen: nach wenigen Secunden zog sich der Vorhang schnell und ebenso undurchdringlich wie vorher von beiden Seiten wieder zusammen. Nun, ich erfreue mich nicht einer übermäßig arbeitenden Phantasie, aber als sich dieses unvergleichliche Schauspiel wie auf unsern Dacaporuf nochmals für ebenso kurze Zeit wiederholte, da hatte ich doch den inneren Eindruck, als hätten ein paar Luftgenien im Dienste der Alpenfee unsere nicht unberechtigten Stoßseufzer und Wünsche erhört, und es war mir ordentlich, als sähe ich sie blitzschnell an den Rändern der Gardine herabgleiten und sie aus einander schieben.

Meinem Begleiter schien es ebenso zu gehen, denn wenige Minuten darauf kehrte er zu mir zurück – er war ein Stück voraus gegangen – und fragte mich in offenbarer Erregung:

„Hast Du das eigenthümliche Singen in der Luft gehört?“

„Ich habe nicht das Mindeste gehört.“

„Da, jetzt kommt es wieder – horch!“

Und wirklich, es kam wieder, ein eigenthümlich gehauchtes Klingen, wie dicht über uns in der Luft. Wir blickten um uns, aber rings, soweit der Nebelschleier uns zu sehen gestattete, war außer unserem Führer keine lebende Seele zu erblicken. Alphornbläser konnten es auch nicht sein; denn der eigenthümlich singende Ton hielt immer dieselbe Höhe, schwand einen Augenblick dahin, kam dann wieder – kurz, es war die reinste Zauberei, und wie wir endlich entdeckten, wirklich von denselben Luftgeistern ausgeführt, die vorhin den Nebelvorhang zurückgeschoben hatten; sie benutzten die Gelegenheit, auf der Feldflasche, die mein Begleiter am Riemen über der Schulter trug, und von welcher der Pfropfen abgefallen war, derweile ein Stücklein zu blasen.

Eine ganz ähnliche Ursache erzeugt die Musik der verzauberten Wälder im Schilluklande, welche uns Schweinfurth geschildert hat. In diesen Wäldern wächst die Flötenakazie (Acacia fistulosa), deren elfenbeinweiße Dornen durch die Thätigkeit von Insecten, die sich in ihrem Innern entwickeln, an der Basis zu runden weißen Blasen von Wallnußgröße ausgedehnt werden, worauf die Insecten bei dem Ausschlüpfen kreisrunde Löcher in den harten Blasenwandungen zurücklassen. Auf diesen Löchern bläst der Wind seine Flötenstücke, während die hohlen Kugeln als Resonanzböden dienen.

„In den Wintermonaten,“ erzählt Schweinfurth, „gewährt der entlaubte Wald der Flötenakazie, das kreideweiße gespenstige Astwerk, welches, mit den aufgeblasenen Stacheln bekleidet, wie von Schneeflocken bedeckt erscheint, einen sonderbaren Anblick; das Flöten und Pfeifen von tausend Stimmen erhöht das eigenthümliche Aussehen eines solchen Waldes von Schoffar.“

Schweinfurth hat diesen Schoffar oder Pfeifenbaum im Parke von Esbekieh bei Kairo angepflanzt, und auch dort haben sich die betreffenden Insecten, welche ihn mit Schalllöchern versehen, eingefunden, sodaß man den Zauberwald jetzt bequem auf der großen Touristenstraße nach dem Orient besuchen kann.

Aber, um nach dieser Abschweifung wieder auf unser Thema zu kommen: solche singende Bäume der Scheherazade giebt es bekanntlich bei Thronecken nicht, und die übrigen Erklärungsversuche, welche eine Täuschung des Beobachters durch zufälliges Zusammentreffen voraussetzen, werden dadurch hinfällig, daß die Erscheinung immer von Neuem an derselben Oertlichkeit wiederkehrt, sodaß jedenfalls in örtlichen Bedingungen der Schlüssel des Geheimnisses gesucht werden muß. Daß auch die Hornsignale der Treibjagd nichts damit zu thun haben, bewies zur rechten Zeit für den darüber entbrannten Streit eine Beobachtung, die bald darauf von einem Unparteiischen gemacht wurde. Der seit kurzer Zeit zu Thronecken angestellte Oberförster-Candidat Gericke vernahm nämlich (schon einige Wochen vor dem Erscheinen des „Gartenlauben“-Artikels) die Glockentöne von Neuem, und was besonders interessant ist, unter genau denselben atmosphärischen Verhältnissen und an derselben Stelle, nur mit dem Unterschiede, daß zur Zeit keine Treibjagd in der Nähe stattfand.

„Am 8. December 1880, einem herrlichen Morgen, war ich,“ so berichtete dieser Beobachter in einem Briefe an Herrn Reuleaux, auf dessen Broschüre er erst nachträglich aufmerksam gemacht wurde, als er das Erlebniß seinem Chef berichtete, „früh in den Wald gegangen, um im Thale zwischen Fuchsstein und Erbeskopf forsttaxatorische Arbeiten vorzunehmen. … Es hatte stark gereift, und der Boden war gefroren. … Bei dem völlig klaren Himmel wirkte die Sonne dermaßen, daß ihr im Laufe des Vormittags Reif und Frost selbst in geschlossenen Beständen weichen mußten. … Es mochte zwischen 1 und 2 Uhr sein, als ich mich im Ehlesbruch befand und wiederholt leises, eigenthümliches Säuseln über mir zu hören meinte, dem ich jedoch keine Beachtung schenkte. Punkt 2¾ Uhr kam ich an die Deuselbacher Försterwiese, wo ich stutzte; denn über mir zogen laute Schallwellen weg, bald näher, bald ferner erklingend, sodaß ich nach der Uhr sah und überlegte, wo wohl Glocken geläutet würden, die hier so eigenthümlich nachklängen. Es waren dieselben Töne, welche ich eine Stunde vorher bedeutend leiser gehört hatte. … Zwanzig Minuten lang hörte ich diese lauten Töne, deren Höhe ich nicht bestimmen kann, weil ich kein musikalisches Gehör habe. Meine Arbeit beschäftigte mich noch bis gegen Abend in jenen Districten, ohne daß ich noch weiter etwas vernahm; übrigens hatte sich der Wind Nachmittags fast gänzlich gelegt. …“

Besonders hervorzuheben ist, daß diese Beobachtung unter fast denselben meteorologischen Bedingungen stattfand, wie die ersten. Herr Reuleaux leitet, wie sich der geneigte Leser erinnern wird, das Tönen von einem Südwestwinde her, der, durch die enge Schlucht des Röderbaches gepreßt, sich in das weitere ansteigende Thal ergießt, und derselbe Wind mit demselben auffallenden Temperaturunterschiede zwischen Thal und Höhe war auch das zweite Mal vorhanden. Wohl nicht mit Unrecht legt Herr Reuleaux gerade auf den letzteren Umstand ein besonderes Gewicht; denn wenn der Südwestwind allein genügte, das Tönen hervorzurufen, würde dasselbe wohl öfter vernommen werden. Möglicher Weise ruft die höhere Wärme im Thale eine vom Berge herabkommende Gegenströmung hervor, welche den Südwest in das Schallrohr der Schlucht einpreßt und erst im Kampfe mit demselben die Töne erzeugt.

Bereits in dem obenerwähnten Aufsatze hatte ich darauf aufmerksam gemacht, daß mehrere andere Oertlichkeiten, in denen gelegentlich glockenartige Töne vernommen werden, sich durch eine dem singenden Thal von Thronecken ähnliche Terrainbildung auszeichnen. Daraufhin sind mir mehrere Zuschriften zugegangen, von denen ich zwei der lehrreichsten hier auszugsweise mittheilen will. Ein Herr L. aus Herdorf im Siegerlande hörte vor nun zwanzig Jahren an einem Sommermorgen gegen 4 Uhr unweit der Mündung einer Thalschlucht seiner Heimath, die leider nicht näher bezeichnet wird, eine halbe Stunde lang solche „herrliche harmonische Töne, ähnlich einem fernen Glockengeläute, aber viel harmonischer, durch die Lüfte ziehen“, und setzt folgende charakteristische Bemerkung hinzu: „Ein alter Mann, welcher nicht weit von mir stand und mit gefalteten Händen in die Luft sah, antwortete auf meine Frage, was das sei: ‚Jetzt fährt der Simon durch’s Thal; dann ziehen Engel mit Posaunen auf Wolken durch die Luft – das höre ich hier jetzt zum zweiten Mal, und fast auf derselben Stelle.‘“

Wolken waren übrigens nicht vorhanden, aber der Correspondent erfuhr, daß später ein Förster in demselben Thale die Musik von Neuem vernommen habe.

Viel genauer ist eine zweite Mittheilung, die ich Herrn Landesschulrath Dr. F. Ilwof[WS 1] in Graz verdanke.

„Auch in den steirisch-kärntnerischen Alpen,“ schreibt mir derselbe, „giebt es ein solches tönendes Thal, und zwar in nächster Nähe des Speikkogels der Koralpe, des höchsten Berges in dem Scheiderücken zwischen Kärnten und Steiermark. Unmittelbar unter diesem Gipfel breitet sich ein enger Felsenkessel aus, welcher gegen Süden, Westen und Osten von steil aufragenden Wänden

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ilwolf
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_703.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2023)