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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Henriette besaß in seltener Weise die Fähigkeit, Fremdes in sich aufzunehmen und zu beherzigen und es durch selbstständiges Fühlen und Denken auszuspinnen und zu vertiefen. Diese Gabe stimmte so eigenthümlich harmonisch zu dem schwärmerischen Zuge ihrer Seele, sich stets für Andere zu opfern, daß ihr Wesen dadurch eine Größe gewann, welche, von innen herausstrahlend, auch ihre ganze äußere Erscheinung wunderbar hob.

Es waren oft kleine Dinge und Veranlassungen, bei denen sich ihre Eigenart, mehr an Andere als an sich zu denken, offenbarte, aber je kleiner diese Veranlassungen waren, desto charakteristischer mußten sie dem aufmerksamen Beobachter erscheinen. So wußte Henriette es zum Beispiel durch alle erdenklichen Vorwände von einem Tage zum anderen zu verschieben, daß Curt's Bild aus Adelheid’s zeitweiligem Atelier in ihre Wohnung überging; sie wollte der Freundin möglichst lange den Genuß gönnen, sich jeden Augenblick ihres Werkes zu freuen. Arndt hatte das selbst gelegentlich wahrgenommen; auch sprach Auguste zu ihm darüber.

„Wenn alle Leute so eigensinnig auf ihren edlen Absichten beharrten wie Henriette, wäre es in der Welt vor Zank und Streit ganz unerträglich,“ sagte sie. „Ich würde an Adelheid’s Stelle das Bild ganz behalten.“

Wenige Tage nach ihrem ersten gemeinsamen Spaziergange fand Arndt die junge Frau eines Nachmittags vor der Thür ihrer Wohnung über einen kolossalen Band Naturgeschichte gebeugt; er wußte, ohne zu fragen, welche Regung ihr denselben in die Hand gegeben hatte. Aber Adelheid, die das Buch später auf der Bank liegen sah, knüpfte eine erstaunte Bemerkung an dasselbe, indem sie sich über dessen ungeheuren Umfang wunderte, und Auguste erkundigte sich spöttisch, aus welchem vorsündfluthlichen Leihinstitut man denn diesen altersgrauen Folianten habe kommen lassen und zu welchem unbegreiflichen Zwecke? Da die Sache einmal in’s Lächerliche gezogen war, mochte Henriette sich scheuen, den wahren Grund ihres plötzlichen Studiums zu gestehen; deshalb beichtete sie nur lächelnd, daß sie das Werk von einem alten, in der Badegesellschaft höchst wunderlich scheinenden Gelehrten geliehen habe, den man wegen seines steifen Wesens den „steinernen Gast“ getauft und über den schon mancher Witz aus dem Munde der Schwestern Lappe gefallen war. Sie habe dem armen Einsiedler einmal eine Freude machen wollen und ihn deswegen um etwas gebeten, behauptete sie scherzend, und das sei ihr denn auch merkwürdig gut gelungen; er sei gewiß Jahre lang so von den alleralltäglichsten menschlichen Beziehungen losgetrennt gewesen, daß ihn das Gefühl, einem anderen lebendigen Wesen auch einmal etwas nützen und geben zu können, wie ein ungeheures Glück überrascht hätte.

Arndt fand, daß selbst dieser Scherz, mit welchem sie ihren wahren Grund für den Augenblick verdeckte, wieder voll besonderster Liebenswürdigkeit war; denn eine aufrichtige Rührung mischte sich augenscheinlich in ihr Lächeln über den alten Gelehrten.

„Sie kann nicht aus sich selbst heraus,“ dachte er bei sich; „sie verstrickt sich sofort von Neuem in ihre eigene Anmuth, wenn sie einmal einen schönen, edlen Zug ihres Wesens verleugnen will.“

Auch bemerkte er in den folgenden Tagen, wie sie nicht mehr in die satirischen Bemerkungen über den „steinernen Gast“ einstimmte, ihn aber bei jeder Gelegenheit nach etwas, das ihm speciell bekannt war, fragte, jedenfalls um ihm eine neue Freude zu machen. – –

Henriette empfand eine aufrichtige Dankbarkeit gegen Arndt, dessen günstiger Einfluß auf Curt ihr nicht entging. Es war oft förmlich, als fühlte das wunderbare Kind sich gehoben, sobald es mit Arndt im Boote saß und ruderte, ihm die Segel spannen half, an seiner Seite die ersten Schwimmversuche machte, oder auch nur still zuhörte, wenn der Architekt mit seiner Mutter über Welt- und allgemeine Lebensverhältnisse sprach. Durch Arndt war offenbar ein Element in Curt’s Leben gekommen, das ihm bisher gefehlt hatte: das Element praktischer Frische, das Henriette ihm beim besten Willen nicht in diesem Maße zuführen konnte, da sie ihrer Natur nach selbst in dem Banne jener ausschließlich idealen Welt lebte, welcher das Wesen des Knaben zugehörte.

Das war es eben, weshalb Henriette so großen Dank für Arndt empfand, und da sie zu wenig selbstsüchtig war, um dem Knaben Alles sein zu wollen, begünstigte sie ohne jede störende Nebenempfindung sein Zusammensein mit dem männlichen Freunde und trat demselben bei dieser Gelegenheit auch für ihre eigene Person nothwendig immer näher. – Arndt’s Charakter sowie seine Art, sich zu geben, sprachen sie außerordentlich an; sie fand darin Verwandtes, das ihr lieb war, und wiederum Andersartiges, das sie zum Nachdenken reizte.

So verflossen die Tage von Arndt’s Anwesenheit auf Rügen in lebhaftem Freundschaftsverkehre, dessen interessante Lieblichkeit ihn, der es so wenig gewohnt war, ausschließlich dem Genusse zu leben, mit fremdartigen Empfindungen umstrickte. Alles, was er erlebte, zog noch immer wie ein wunderlicher Reisetraum an ihm vorüber, und Henriette Brandenburg fesselte ihn von Tag zu Tag mehr.

Aber nicht, als ob er besinnungs- und gedankenlos sein Herz an sie verloren hätte, wie ein Jüngling! Nein, er war sich sogar bewußt, daß es Etwas in ihrem Wesen gab, das ihn störte.

Und das war nicht mehr, wie vor Jahren, das Gefühl, als betrauere sie ihren Gatten nicht, wie es sich gebühre – es war etwas ganz Anderes: es bedrückte und beklemmte ihn mitunter die Empfindung, in ihrer Gegenwart keinen profanen Gedanken haben zu dürfen und jede selbstsüchtige Regung ersticken zu müssen, wollte er nicht weit hinter ihr zurückbleiben: sie war eine ideal gestimmte Frau und er ein Mann des realen Lebens und der unmittelbaren Empfindung.

Und doch! Im Widerspruch mit diesem ihn störenden Gefühl gab es bald nichts Ersehnteres für ihn, als allein mit ihr zu sein und ganz ungestört mit ihr zu reden, wenn einmal die Malerinnen nicht zugegen waren und sich selbst der Knabe abseits umhertrieb.

Er meinte, daß er nie etwas so eigenthümlich Schönes gesehen habe, wie diese Frau, wenn sie neben ihm durch den stillen Buchenwald an’s hohe Ufer ging und oft plötzlich stehen blieb, das Gesicht lebhaft zu ihm gewandt, um ihn auf einen hüpfenden Vogel, einen malerisch herüberhängenden Ast oder die unerwartet durch den Schatten brechenden Sonnenstrahlen aufmerksam zu machen. – Er vergaß dann, daß sie eine Frau und Wittwe war, und empfand ihre Nähe wie die eines jugendschönen Mädchens, das, von räthselhafter Anmuth und Hoheit umwoben, an seiner Seite schritt.

Oder sie saßen auch fernab vom Dorfe mit einander auf der kahlen Düne am Strande, Henriette oben auf dem Hügel zwischen wehendem Strandhafer und er, wie selbstverständlich, tiefer unten, gleichsam zu ihren Füßen, und was sie dann sprachen, war nie etwas Alltägliches. – Ihre Unterhaltung drehte sich um Alles, das in höherem Sinne interessant war, und Henriette redete zu ihm wie zu einem alten Bekannten.

Einmal hatten sie, von ihrem Wege ausruhend und mit einander plaudernd, Berlin und allerlei gegenwärtige Weltverhältnisse berührt, welche ihn als Mann, der gelegentlich rüstig im Strome seiner Zeit zu schwimmen hatte, natürlich beschäftigten. Da fragte plötzlich Henriette unruhig:

„Was meinen Sie, wie wird sich Curt einmal in die Welt finden? Mir schwindelt, wenn ich von all diesem Parteiwesen höre. – Die Einen haben Recht und die Anderen haben gewiß nicht Unrecht. – O, mir scheint auf der einen Seite genau so viel Selbstsucht und Beschränktheit zu sein, wie auf der anderen, und deshalb kann man keiner Partei den erbitterten Kampf auf Leben und Tod verdenken. – Keiner fühlt sich in seiner Lage wohl – und darum hat Jeder Grund genug, es anders zu wünschen, als es eben ist. – Früher, als ich jung war, schwärmte ich für die Revolution; – o, lächeln Sie nicht! Ich meine es sehr ernsthaft – aber – ich bin älter geworden. – Doch – weiß Gott – anders, als sie ist, möchte ich auch heute noch die Welt haben! – Aber mich dünkt, ein Kind könnte sie reformiren, wenn man es mit den Worten über die Erde schickte: ‚Macht einander Freude – und thut Euch nicht weh!‘“

Die Thränen waren ihr in die Augen getreten, als sie so sprach.

Arndt, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, vermochte nichts zu entgegnen und sah gegen seine Gewohnheit unbeweglich zu ihr auf.

„Hier ist es schön,“ sagte sie nach einer Weile tief aufathmend; „finden Sie nicht? – Hier hört man nichts von alledem, das einen ängstigt und bedrückt – O Gott, die Natur!“

Darauf schwieg sie wieder, und ihr feuchtschimmerndes Auge eilte am Strande entlang dem herankommenden Knaben entgegen, während ihr geschlossener Mund noch zu sprechen schien.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_710.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)