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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Natürlich längst zerrissen,“ sagte sie. „Ich fand sie heute Morgen unter meiner Kaffeetasse; selbstverständlich wurde er glühend roth, während ich sie las, und riß sie mir, als ich damit kaum zu Ende war, schon wieder aus der Hand, um mit dem Concept zum Zimmer hinaus zu stürzen.“

„Schade, daß ich sie nicht sehen durfte! So etwas hätte ich mir nicht träumen lassen!“ meinte Arndt.

„Nicht? Sie müssen doch bemerkt haben, wie er Sie bewundert?“

„Ja, weil ich das Militärmaß und noch einige Zoll darüber habe,“ scherzte Arndt, um eine ungewöhnliche Bewegung zu verbergen. Henriette lachte flüchtig; dann aber sagte sie herzlich:

„Aber, wenn wir ernsthaft sein wollen: Sie müssen gefühlt haben, Herr Architekt, wie dankbar Ihnen mein Sohn für die große Freundlichkeit ist, welche Sie ihm diese ganze Zeit über erwiesen haben, und ich bin es mit ihm. – Ich mußte Ihnen das einmal sagen, und ich freue mich, daß ich noch heute Abend dazu Gelegenheit fand.“

Arndt erwiderte nichts darauf. Desto beredter sprach ein Ausdruck freudiger Ergriffenheit aus seinem leicht gerötheten Gesichte, und eine bescheiden ablehnende lebhafte Handbewegung lieh seiner inneren Bewegung Ausdruck. Noch eine gute Weile blieben sie einander gegenüber auf den schmalen Bänkchen des Bootes sitzen.

Arndt war nachdenklich und schweigsam geworden. Etwas, das er seit seiner persönlichen Berührung mit Henrietten wiederholt unterdrückt hatte, erfüllte ihn an diesem letzten Abende des Zusammenseins mit ihr übermächtig – und mochte es nun passend sein oder nicht, er wollte es heute aussprechen.

„Verzeihen Sie mir eine Frage!“ sagte er plötzlich. „Sie sind schon in früher Jugend einem harten Schicksal begegnet, gnädige Frau; Sie haben mir so Manches erzählt, aber Sie sprachen noch nie von Ihrem Gemahl. – Waren Sie lange auf seinen Tod vorbereitet?“

„Ich wußte, daß er bald sterben würde, als ich mich mit ihm verlobte,“ sagte sie ruhig, aber mit einer andächtigen Klangfärbung, wie sie die Stimme des Menschen bei Erwähnung eines Todten anzunehmen pflegt. Sie schien zu frösteln: denn sie zog plötzlich ihr Shawltuch fester um die Schultern.

Arndt fühlte, daß er an eine wunde Stelle in Henriettens Herzen gerührt, aber er gestand sich nicht, wie selbstsüchtig die Motive waren, die ihn dazu veranlaßten; ein leises Lächeln der Befriedigung stahl sich in seine erregten Züge, und wäre es nicht so dunkel gewesen würde Henriette vor dem sonderbaren Leuchten seiner Blicke erschrocken sein.

Indessen schwiegen sie Beide, und nun war es, als begönnen plötzlich die Wellen, welche das Boot umwogten, an ihrer Stelle zu reden. Wie ein dumpfes unterirdisches Branden und Brausen, wie ein leise in der Tiefe verhallender Donner zog es von fernher heran, und dazu zischten und rauschten die einzelnen Wellen auf der Oberfläche.

Henriette neigte sich leicht über den Rand des Bootes und blickte an den schwarzen Steinblöcken vorüber wie gebannt auf den tanzenden Schaum, während Arndt noch immer daran dachte, wie ihm nun bestätigt sei, was er von vornherein geahnt habe, daß Henriette in dem verstorbenen Gatten nicht den Geliebten ihrer Jugend betraure. – Dieser war es also nicht. –

Plötzlich wandte sie leise den Kopf. „Curt!“ sagte sie und stand auf. – Sie wußte wohl, daß der Knabe gern eine Weile allein war, wenn ihn etwas aufregte, aber sie meinte doch, es sei jetzt Zeit für ihn, heimzukehren. Und bevor sie noch den Fuß auf den Bord des Kahnes gesetzt hatte, stand auch Arndt schon außerhalb, um ihr von dort die Hand zu reichen, damit sie besser aussteigen könne. Dann führte er sie ebenso sicher und sorgsam über die großen und kleinen Steinblöcke hinweg an’s Ufer. Dabei kam sie ihm oft ganz nah, sie achtete aber nicht darauf, daß er heftig athmete, wie nach einem langen Marsch oder einer sonstigen Anstrengung. Er hielt ihre Hand so regungslos fest in der seinen, daß ihr unmöglich etwas an ihm auffallen konnte.

„Curt, komm jetzt!“ sagte Henriette freundlich und wandte sich zum Gehen.

Der Knabe, welcher bisher wie ein junger Seehund auf einem großen flachen Steine am Ufer gelegen hatte und nun schnell aufgesprungen war, folgte den beiden Vorangehenden. Doch schritt er diesmal nicht an der Seite seiner Mutter, sondern drängte sich dicht an Arndt heran und sah während des Weges dann und wann stumm und verstohlen zu ihm auf. Erst kurz vor dem Dorfe begann er unruhig und lebhaft zu schwatzen und betrug sich überhaupt sehr aufgeregt. Arndt war innerlich wohl mehr mit der Mutter, als mit dem Sohne beschäftigt, aber trotzdem entging ihm Curt’s Stimmung nicht.

Nach kurzer Wanderung hatten sie den Vorgarten von Brandenburg’s Wohnung erreicht. Auf der Schwelle des Hauses verabschiedete sich Arndt von Henrietten – schnell, aber mit einer gewissen verhaltenen Innigkeit. Und dem Knaben, welchen Abschied bot er ihm, der mit so sichtlicher Liebe an ihm hing? Schon mehrmals hatte er ihm die Hand geschüttelt, und nun, als Arndt sich schon halb zum Gehen gewandt, kam es auf einmal wie zwingend über ihn – fast ohne es zu wollen, beugte er sich zu dem Knaben herab und drückte einen Kuß auf seine Stirn.

„Auf Wiedersehen in Berlin, mein junger Freund!“ sagte er dann heiter und grüßte noch einmal leicht mit dem Hut zu Henrietten hinüber. Als er aber allein dem Nachbardorfe zuschritt, war er räthselhaft erschüttert, und hastiger, als seine Schritte vorwärts stürmten eilten seine Gedanken zurück. – – –

„Jä,“ meinte Putbrese am andern Morgen, als Arndt wartend vor ihm stand, um sich einige Mark herausgeben zu lassen, die er über den Betrag seiner Rechnung gezahlt hatte, „jä – Se gaohn ock woll lichter, as Se kaomen sünd?“

Der Alte zwinkerte so schlau mit den schief gezogenen Augen, als wollte er dem Abreisenden die Antwort aus der Seele lesen.

„Natürlich, guter Putbrese, dafür sorgen die Herren Gastwirthe überall,“ entgegnete Arndt lächelnd.

„Iä – jä – dat is doch äwers ’n schlimm Ding, allens hier to laoten un goarnix dorför mit to nähmen – jä? – Oder nähmen S’ doch ’n bäten wat mit? – Keen son lütt Angedenken?“

„Daß ich nicht wüßte! Ich bin kein Raritätensammler. – Aber bitte, beeilen Sie sich etwas, Herr Putbrese! Denn die mir noch zustehenden Markstücke will ich allerdings gerne mitnehmen.“

„Verstah all,“ grinste der Alte und trat vor sein Pult. „Na – na, man nich so hitzig! – Se sünd keen Roretätensammler? Ne, dat sünd Se nich, äwers dat givt doch ock anner Oarten von Roretäten ... Dunnerwärer! een, twe, dree, vier, vief Mark! – Jä! wenn de nix Ror’s is, denn weet ich ’t nich.“

Arndt hatte nichts von seinem letzten Gemurmel gehört; denn er verabschiedete sich soeben von der „hochdeutschen“ Wirthin, die sofort, als er das Haus verlassen hatte, in einen plattdeutschen Redestrom ausbrach:

„Ick weet nich, Putbres’, wenn se dissen nich nimmt ...! Dat se de vörrigjohrschen Herrn nich ankäken hat ... leve Gott! se möt vähl von ehren Herrn Prefesser hollen hebben – un dat fin ich so rührend un christlich bi sonne vörnähme Doam – – Aewers dissen Herrn Architekten! Wo kleedt den Mann dat good! Alleen disse Boart! disse smucke lange Snauzboart! Putbres’, Du best Dien Daog nich son Boart hatt! – Du kennst goar den Wierth nich, de in sonnen Boart sitt! – dat is nich üm den Boart alleen – dat is üm dat Vörnähme. – – Aewerhaupt: siehr nette Manieren het de Mann! Keen patzig Wurd – un doch nich temied! – Ne, de Mann geföllt mie – dat kann ich woll seggen, siehr geföllt disse Mann mie. Un ick will nich Methilde Putbresen heten, wenn em dat nich ock bie uns angenähm wäst is un he anner Johr wedder kümmt.“

Das glattrasirte Gesicht des alten Putbrese verzog sich zu einem breiten, nachhaltigen Lächeln, draußen aber läutete schon die Glocke des Dampfschiffes, und schäumend setzten sich die Räder des kleinen Fahrzeuges in Bewegung.

Arndt stand auf Deck; sein Blick schweifte nach dem benachbarten Dorfe hinüber; deshalb übersah er wohl, daß aus dem Fenster der Malerinnen, das gerade auf das Wasser hinausging, ein weißes Tuch wehte, welches so langsam und melancholisch hin und her gezogen wurde, daß es nicht schwer gewesen sein dürfte, sich in der Phantasie Augustens braves Gesicht mit dem ironischen Ausdruck dahinter zu ergänzen.




10.

Es war Winter. Menschen und Ereignisse drängten sich wieder in der Hauptstadt. Eine Tagesneuigkeit löste die andere

ab. Der Reichstag war eröffnet, die Theatersaison auf der Höhe; fremde und einheimische Künstler aller Gattungen brachten ihre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_712.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)