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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

ausdehnen, und Kinder blieben bis zur Großjährigkeit Arbeitssclaven. Der Arbeiter wurde einfach „serf, Knecht“ genannt.

In den frühesten Zeiten der deutschen Einwanderung kamen derartige Fälle selten vor, zum ersten Male urkundlich 1686, und erst in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gelangte das System zur vollen Ausbildung und allgemeinen Anwendung. Die Agenten, welche große Provisionen bezogen, hießen „Neuländer“, wurden aber auch mit dem minder schmeichelhaften Namen „Seelenverkäufer“ bezeichnet. Wir besitzen von Zeitgenossen und Augenzeugen so genaue und lebensvolle Schilderungen dieser Zustände, daß uns bei der Lectüre derselben geradezu ein Grauen befällt.

Wenn die Schiffe in Philadelphia nach der langen Seefahrt landeten, durften nur die Zahlenden oder durch Bürgen Geschützten das Land betreten. Alle Anderen mußten warten, bis man sie kaufte, was oft, wenn sie nicht jung und gesund waren, wochenlang dauerte, sofern sie nicht inzwischen Krankheiten erlagen. Männer mit kranken Frauen und Frauen mit kranken Männern mußten, wenn sie die Ihrigen mit sich zugleich auslösen wollten, für diese durch eine längere Arbeitsdauer einstehen und oft wurden ganze Familien getrennt, indem Mann, Weib und Kinder an verschiedene Käufer gelangten und Mütter von ihren Kindern auf Nimmerwiedersehen lassen mußten, weil Letztere, wenn sie das Alter von fünf Jahren noch nicht erreicht hatten, nicht gekauft, sondern umsonst ausgegeben wurden und dann bis zum einundzwanzigsten Jahre dienen mußten. Das Schiff war der Markt des Menschenhandels: dorthin kamen, in Folge der Anzeigen im Philadelphiaer „Staatsboten“, welcher die Ankunft „frischer, gesunder Waare“ meldete, in großer Zahl, oft zwanzig bis dreißig Wegstunden weit her, die Käufer und handelten um Menschen – um unsere deutschen Landsleute! Es ist indessen zu bemerken, daß die Deutschen in Pennsylvanien sich niemals an diesem Menschenschacher betheiligt haben.

Zu alledem kam noch ein weiterer abscheulicher Mißbrauch der Rheder: Bei der Abfahrt von Europa wurde zwar das Gepäck der Auswanderer vor deren Augen mit verladen, heimlich aber wieder an’s Land gebracht, um entweder gar nicht oder auf später abgehenden Frachtschiffen nachbefördert zu werden. Es geschah dies, um für die Menschenwaare mehr Raum zu gewinnen. Die armen Auswanderer fanden sich dann bei ihrer Ankunft an den „gastlichen“ Gestaden der neuen Welt nackt und hülflos, und kamen die Kisten dann endlich an, so waren sie geöffnet und ihres besten Inhalts beraubt; häufiger aber blieben sie ganz aus.

Man wird fragen, wie es gekommen, daß so himmelschreiende Mißbräuche nicht gehörig untersucht und durch Bestrafung der Schuldigen abgestellt wurden? Die Antwort giebt Christoph Saur, der unermüdliche Freund und Schützer des Auswanderers. „Es war keine Maus“ – sagt er – „die der Katze wollte die Schellen anhängen. Die Leute, welche von der Ausbeutung der Passagiere ihren Nutzen zogen, hatten beim Gouverneur mehr Einfluß, als entrüstete Menschenfreunde.“

Die gesetzgebende Behörde erließ zwar im Jahre 1750 ein Gesetz zum Schutze der Einwanderer, aber es blieb Alles beim Alten; denn die eingesetzten Inspectoren waren käuflich und drückten ein oder beide Augen zu, sodaß, wie Saur sagt, „die Leute zuweilen nicht mehr als zwölf Zoll Raum und nicht halb genug Brod und Wasser hatten.“

So lagen die Dinge, als sich im Herbste 1764 das jammervolle Schauspiel ereignete, daß gleichzeitig mehrere Emigrantenschiffe in Philadelphia anlangten, welche mit Kranken und Sterbenden besetzt waren – ein Fall, der sich früher nur auf einzelne Schiffe beschränkt hatte. Ueber die Zahl der unterwegs Gestorbenen wurde nichts berichtet. In Folge dessen brachte der „Staatsbote“ am 19. November eine anonyme Einsendung, welche zur Unterstützung der Ankömmlinge das öffentliche Mitleid in Anspruch nahm. Der Herausgeber der Zeitung begleitete das Inserat mit einer warmen Fürsprache, und dadurch angeregt, trat eine Anzahl deutscher Männer, anfangs ohne alle gesellschaftliche Einigung, zur Linderung der augenblicklichen Noth ihrer Landsleute zusammen. Da aber voraussichtlich der Anlaß zu ähnlichem Einschreiten öfters wiederkehren mußte, so entschlossen sie sich bald darauf, durch die Stiftung einer deutschen Gesellschaft ihre wohlthätige Wirksamkeit zu einer bleibenden und planmäßigen zu machen: Am zweiten Christtage 1764 Nachmittags vier Uhr constituirte sich mit 65 Mitgliedern im Schulhaus der Cherrystraße zu Philadelphia die oben erwähnte erste deutsche Hülfsgesellschaft der Welt unter dem noch heute bestehenden Namen „Deutsche Gesellschaft von Pennsylvanien“.

Es würde zu weit führen, hier eine specielle Geschichte der Thätigkeit dieser Gesellschaft zu liefern, und so mag die Bemerkung genügen, daß der Verein zunächst ein Gesetz zum Schutze der deutschen Einwanderer durchsetzte, daß er dann den Schulunterricht, die Krankenpflege und die Armenunterstützung unter seine Fittiche nahm und eine deutsche Bibliothek gründete.

Eine Periode der Erschlaffung der Gesellschaft trat während der Jahre 1818 bis 1859 ein, in welcher Zeit die Vereinsverhandlungen sogar in englischer Sprache geführt wurden und die Mitgliederzahl erheblich abnahm. Bei der geringen Fürsorge der Gesellschaft für die Interessen der Einwanderer entstand um jene Zeit eine andere „Einwanderungsgesellschaft“ neben der Deutschen (1843), allein zu Beginn der sechsziger Jahre hob sich der Verein sichtlich und drängte somit das Gedächtniß an jene unrühmliche Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. – – –

Die zweitälteste deutsche Hülfsgesellschaft im Auslande ist die „Deutsche Gesellschaft der Stadt New-York“;[1] sie wurde im Jahre 1784 gegründet und wird somit in zwei Jahren das Erinnerungsfest ihres hundertjährigen Bestehens feiern, wozu bereits großartige Vorbereitungen getroffen werden.

Die „Deutsche Gesellschaft von New-York“ verdient unsere besondere Beachtung; denn sie steht in ihrer Organisation und Gliederung als ein rühmliches Beispiel einzig da, und ihre Jahresberichte sind deshalb wahre Fundgruben für alle Auswanderer und Diejenigen, welche sich für die Auswanderung praktisch oder theoretisch interessiren; sie überragen an Ehrlichkeit, Freimuth und guten Rathschlägen alle anderen Monographien über Auswanderung. Die Gesellschaft hat eine vollkommen organisirte Armen- und Krankenpflege, ferner ein Arbeitsnachweisungsbureau, ein Bankdepartement und ein Auskunftsbureau; auch steht sie mit einem vor sechs Jahren gegründeten, von der Gesellschaft subventionirten[WS 1] Rechtsschutzverein in Verbindung. Das im Jahre 1868 begründete Bankdepartement leistet nicht blos den Einwanderern die bedeutendsten Dienste, indem es sich mit Auszahlungen nach Europa, mit Wechselvermittelung mit der neuen Welt, mit dem Arrangement von Passagen über den Ocean und mit Einlösung europäischer Anweisungen und Paketbeförderung befaßt, sondern verschafft auch durch die dafür gezahlten Gebühren und Provisionen der Gesellschaft einen sehr beträchtlichen Theil ihrer Einnahmen.

Die wichtigsten Stützpunkte der Gesellschaft sind Wards Island und ganz besonders Castle Garden. Ersterer Ort dient als vorübergehende Zufluchtsstätte für kranke und mittellose Einwanderer, wenn nicht, was selten vorkommt, deren Rücksendung in die Heimath geboten erscheint. In den letzten Jahren machten wenig Einwanderer von den Wohlthaten dieses Institutes Gebrauch, was im Allgemeinen auf den Vermögensstand und die Gesundheit der angekommenen Einwanderer einen günstigen Rückschluß gestattet. In Castle Garden dagegen müssen alle Zwischendeckspassagiere gelandet werden. Jedem von ihnen wird hier auf vierundzwanzig Stunden ein Unterkommen gewährt, wobei, auch seitens derjenigen, welche nicht von diesem Unterkommen Gebrauch machen, Name, Herkunft und Reiseziel angegeben werden muß. Die Ankömmlinge erhalten dort bereitwillig für ihr weiteres Fortkommen die umfassendsten Informationen und Rathschläge.

Castle Garden wird einzig und allein von der Deutschen Gesellschaft unterhalten, welche dazu seit 1876 eine von der Staatsregierung von New-York von Jahr zu Jahr neu bewilligte, ziemlich geringe Subvention erhält. Früher durften die Einwanderungs-Commissäre von jedem in Castle Garden gelandeten Einwanderer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: suventionirten
  1. Zur Bildung der „Deutschen Gesellschaft in New-York“ traten am 22. August 1784 dreizehn Männer zusammen, darunter zwei ehemalige Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft von Pennsylvanien“. – Ob die „Deutsche Einwanderungsgesellschaft“ in Philadelphia noch besteht, konnte der Verfasser dieses Artikels nicht in Erfahrung bringen. Ebenso wenig ist aus den Quellen der amerikanischen Hülfsgesellschaften zu ersehen, ob die im Jahre 1766 in Charlestown gegründete „Deutsche Gesellschaft von Süd-Carolina“ sich noch erhalten hat, welche demnach älter wäre, als diejenige von New-York, oder ob sie sich aufgelöst hat. Eine Anfrage des Verfassers an die Adresse dieser Gesellschaft, deren in dem Seidenstricker’schen Werke „Geschichte der Deutschen Gesellschaft von Pennsylvanien“ Erwähnung geschieht, blieb ohne Antwort, und die Berichte der Hülfsgesellschaften von Nordamerika erwähnen zwar aller anderen Hülfsgesellschaften, welche jetzt bestehen, nicht aber derjenigen von Charlestown.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_722.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2023)