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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Ich sah den Knaben,“ sagte sie leise, „und seine Augen, obgleich sie nicht dunkel waren ...“

Arndt wurde immer unruhiger, und seine Hand ballte sich zur Faust; eine Secunde lang haßte er den Knaben.

„Curt’s Augen hatten eine wunderbare Aehnlichkeit mit ... mit den seinen,“ sprach Henriette weiter. „Alles in mir wachte auf – o Arndt, ich konnte diesen Augen nicht widerstehen, und so versenkte ich die letzte Empfindung für den geliebten Mann in die Liebe zu diesem fremden Kinde. – Ein Jahr zuvor hatte ich den Antrag von Curt’s Vater, die Werbung von Professor Brandenburg, zurückgewiesen, da – nachdem ich den Knaben gesehen, war mir plötzlich die Aufgabe meines Lebens klar geworden. – Ich verlobte mich mit Brandenburg, der schon damals ein Todescandidat war, und als wir getraut wurden, lag er bereits auf dem Sterbebett. Aber ich wollte es so, ich wollte ein Recht haben, diesen Knaben meinen Sohn zu nennen, denn ich konnte nicht mehr von ihm lassen. Ich weiß nicht, ob es eine jesuitische Sünde ist: während der Geistliche das Ehegelübde vorlas, sprach ich in meinem Herzen. ‚Ja, ich will Dein sein bis in den Tod.‘ Ich meinte den Knaben, und gleich darauf wechselte ich den Ring mit dem Vater. – Merkwürdig,“ setzte sie hinzu, und ihre Stimme bebte. „Ich glaubte, die Zeit liege auf allen diesen längst verschollenen Ereignissen wie eine schwere Altardecke, welche ich nie wieder würde heben können – und nun lebt die Vergangenheit wieder auf, indem ich von jenen Tagen spreche.“

„Und Sie waren glücklich in jenen Tagen?“ fragte Arndt, „sind es heute, Henriette? Und ihr Herz ist ausgefüllt bis in alle Ewigkeit?“

Sie antwortete nicht. Ihre Gedanken schienen weitab zu wandern.

„Gute Nacht, Henriette – es ist Zeit, daß ich gehe.“

Da trat sie vor ihn hin und ergriff sanft seine Hand.

„Ja,“ sagte sie, „ich bin jetzt glücklich. Und Sie, Arndt, Sie werden es auch wieder sein. – Sehen Sie, es klopfen täglich viele schöne Freuden an mein Herz, und wenn sie einen leisen und stillen Gang haben und ruhig bei mir eintreten, so schadet das nichts, denn meine Hand, welche ihnen die Thür öffnet, zittert ja nicht mehr vor Sehnsucht. – Ja, ich bin glücklich, Arndt, aber jene Freuden, die durch alle Adern rinnen – die wie das Brausen im Frühlingssturm in die jauchzende Seele herabfahren, die sind natürlich vorüber.“

„Sie sind eine Heilige, Henriette, wohl Ihnen, daß Sie es sind!“ Er sagte es resignirt, aber in die Resignation seiner Stimme klang doch etwas wie Spott.

„Arndt,“ bat sie beschwörend, „spotten Sie nicht in diesem Augenblicke! Es wäre eine schwere Sünde. O mein Freund, was gäbe ich darum, wenn ich Ihnen helfen könnte, glücklich zu sein, wie ich es bin!“

Er wandte das Gesicht ab.

„Alles geben Sie darum, Henriette – nur nicht sich selbst!“ sagte er und preßte die Zähne im Schmerze auf einander.

Sie bemerkte es wohl, noch einmal ergriff sie seine Hand.

„Freunde!“ stammelte sie, „Arndt, warum denn nicht? Alles, was noch mein war von meinem Herzen, habe ich Ihnen ja gegeben, und Sie sollen es behalten bis an’s Ende: meine Dankbarkeit ...“

Und diesmal konnte sie nicht anders: in dem überströmenden Wunschgefühle, ihn zu trösten hauchte sie einen leisen, abbittenden Kuß auf seine Hand.

„Was thun Sie, Henriette?“ preßte er heraus. „Wollen Sie, daß ich ewig Ihr Sclave sein soll? Henriette – – Henriette!!“

Sie fuhr zusammen.

„Nein,“ sagte sie. „Sie werden aufhören, zu lieben, wie auch meine Liebe aufgehört hat. – Gute Nacht, Arndt! Gehen Sie! – Es ist gut, daß wir bald reisen und daß wir uns eine Zeit lang nicht sehen werden. – Später ...“ sie brach jäh ab. – „Auch aus dieser – schrecklichen Stunde kann uns Gutes kommen,“ schloß sie dann hastig.

„Vielleicht haben Sie mit allen Ihren Behauptungen Recht,“ sagte er, während sein Gesicht immer finsterer wurde und sich seine Gestalt fast unheimlich in die Höhe richtete. „Aber, glauben Sie mir, Henriette, nicht jede Liebe ist ein Gott. Liebe kann auch ein Dämon sein.“

„Liebe nicht. Liebe ist immer ein Gott,“ rief sie bewegt. „Ohne die Liebe wäre unsere Seele vielleicht ein Kaufhaus geworden, aber wir wurden geliebt – und unsere Seele wurde ein Tempel.“

„Allerdings,“ erwiderte Arndt wegwerfend; „es giebt auch armselige Tempel, wie es verloschene Herzen giebt, Tempel, in denen das Altarbild fehlt.“

„Ja, Arndt,“ sagte sie ruhig, „das Bild wurde uns zertrümmert, weil wir davor gekniet – wir sollen vielleicht keine andern Götter haben, als – die Ideale der Liebe und der Pflicht – was wollten wir denn auch anders? Einen Himmel auf Erden? – Seit Adam und Eva war Niemand im Paradiese, es sei denn im Traum. – Auch wir haben vom Paradiese geträumt. Auch wir aßen von dem Baume des Lebens und wandelten unter Palmen.“

Wie sie so sprach, dünkte Arndt auf einmal, er habe sie nie zuvor so mädchenhaft lieblich, nie so schön gesehen, und plötzlich jauchzte es in seinem Herzen auf. Er sah sie mit einem ganz sonderbaren Aufleuchten von grimmer Liebe und Bewunderung an, drückte ihr noch einmal stummberedt die Hand und verließ schnell das Zimmer.

„Henriette,“ sagte er draußen, wo der Frühlingswind seine heiße Stirn umwehte, zu sich selbst, „die Leidenschaft in Dir ist nicht todt, sie schlummert nur – eines Tages aber muß sie wiedererwachen – und dann, dann bin ich Deinem Herzen der Nächste.“ – – –

Unruhig war Henriette nach Arndt’s Fortgang in der nächtlichen Stille ihres Zimmers zurückgeblieben.

Was hatte sie gethan? Ihr Herz klopfte ungestüm, wie seit Jahren nicht mehr. Zug um Zug, ganz, wie er einst an ihrer Seite gestanden, feurig, wie er einst über ihr gelächelt hatte, wenn ihr Haupt an seiner Schulter ruhte, sah sie den Geliebten ihrer Jugend vor sich. Wie hatte sie ihn all diese Jahre hindurch vergessen können?

Und die Thore der Vergangenheit sprangen plötzlich vor ihr auf, wie die Pforten einer alten, lange verschlossen gewesenen Kirche. Schaudernd, mit hinabgebeugtem Haupte, aber mit andächtig erhobenen Händen und selig-schwärmerischem Blicke trat sie in die geliebten, von tausendstimmigen Chören erfüllten Gewölbe ein, und an jedem Schritt den sie that, an jeder Stelle des Fußbodens, die sie berührte, hingen die Empfindungen welche einst an diesen Stätten über sie gekommen waren. O, die Macht der Erinnerung! Selbstvergessen stand Henriette in ihrem Zimmer.

Aber – „Eine Andere!“ – dachte sie plötzlich, und wie Eis legte es sich ihr auf’s Herz – kalt, kalt!

Was wollte sie? Wo war sie gewesen? Was hatte sie gethan?

„Nie wieder,“ sagte sie, „will ich von ihm reden. Es ist Mitternacht, ich habe die Todten aus ihren Gräbern geweckt.“

Erschöpft sank sie auf ihre Chaise-Longue. Ihr Haupt fiel zurück – ihre Glieder streckten sich ruhebedürftig aus. Sie schloß die Augen, und nun kam sie sich vor wie eine geheimnißvolle Leiche, aus der alle Unruhe der Welt entflohen ist, und was sich noch etwa von alten Erinnerungen in ihr regte, erschien ihr fremd und fern, fern wie Todtenwürmer, die hoch über ihr im Gebälke nagten.




12.

Ungefähr acht Tage später war Arndt eines Nachmittags zwischen allerlei Büchern, Plänen und Zeichnungen thätig.

Er arbeitete, wie sonst, mit der Anspannung aller Kräfte, aber nicht mit schwungvollem Frohsinn und thätigem Eifer, sondern mit einer gewissen Ueberhastung.

Als er sich so recht inmitten vollster Anstrengung befand, klingelte es bei ihm, und er stand auf um zu öffnen.

Einige Minuten später trat er mit Curt wieder ein, und sein Gesicht drückte eine fast verlegene Ueberraschung aus, obgleich die Besuche des Knaben nichts Seltenes waren. Auch Curt war dunkelroth geworden und wurde es noch mehr bei Arndt’s Frage, ob er gekommen sei, um für die Zeit der auf Rügen zu verlebenden Ferien von ihm Abschied zu nehmen.

„Ja,“ sagte er, und seine großen ausdrucksvollen Augen blickten unstät im Zimmer umher. „Ich wollte Ihnen Adieu sagen. Sie sind ja seit acht Tagen kein einziges Mal bei uns gewesen.“

„Freilich, ich hatte von Morgen bis Abend zu thun, Kind.“

„Wer das glaubt!“ sagte Curt, dessen Befangenheit auf einmal schwand, beinahe hart. „Ich nicht, Herr Arndt! Ich gewiß nicht!“

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