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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Gesichte. Es sind dies wohl die schönsten Männer, welche ein europäisches Heer aufweisen kann, und mit Recht nennt sie Taine, ein französischer Geschichtsschreiber der englischen Literatur, „les beaux colosses“ (die schönen Kolosse).

Von der Uhr der Caserne schlägt es einhalb Zwölf. Setzen wir uns auf eine der Bänke, welche am nördlichen Fußwege angebracht sind! Wir sind hier allein und werden in der Betrachtung eines schönen Schauspiels, welches nun bald beginnen wird, nicht gestört. Vereinzelte Reiter und Reiterinnen erscheinen von ferne. Mit jeder Minute wird die Schaar dichter, welche einzeln, zu zweien, in Reihen, in ganzen Zügen, im Schritt, im Trabe, im Galopp auf schönen, feurigen Pferden an uns vorüberreiten. Da sind Herren und Damen, echte und imitirte Lords, Officiere und Sonntagsreiter, die oft genug, wie unser Bild zeigt, aus der Rolle fallen. Sollte Jemand daran zweifeln, daß England schöne Frauen aufzuweisen hat, so möge er sich nur eine Stunde auf eine der Bänke niederlassen. Wer einen schönen Gesammteindruck reizenden Einzelheiten vorzieht, wem Frische und Einfachheit des Wesens mehr gelten als der Reiz der Affectation, wer vom Weibe einen Eindruck verlangt, der sich nicht blos an seine Sinnlichkeit, sondern weit mehr an sein Gemüth und seine Phantasie wendet, der wird vielleicht lächeln, wenn man ihm – gegenüber der Engländerin – von der Schönheit der Frauen des Südens spricht. Kant sieht mit Recht das Merkmal des Schönen in demjenigen Eindrucke des Wohlgefallens, der uns zugleich die Ruhe des ästhetischen Schauens vergönnt. Ich kenne Niemand, der die englischen Damen wegen der Anmuth ihrer Bewegungen gepriesen hätte, aber ich muß gestehen, daß ich in keinem Lande so viele, ich möchte sagen, dianenhafte Grazie gesehen habe als eben in England. Die Haltung der Engländerin, mag sie schreiten, fahren oder reiten, ist bisweilen von königlicher Schönheit. Von hinreißendem Reize ist manchmal der kräftige, freie Schritt jugendlicher Gestalten und ihre eigenartige Anmuth bei heftigen Bewegungen. Was ist alle Grazie der Französin, der Spanierin verglichen mit der anmuthigen Meisterschaft, mit der die junge englische Reiterin im wildesten Galopp an uns vorüberfliegt!

Nun ist es auch auf dem Fußwege lebendig geworden. Die Brücken füllen sich; Damen und Herren stehen am Geländer, um das Leben in Rotten-Row in nächster Nähe anzusehen. Wir gehen langsam hinab. Je mehr wir vorwärts schreiten, desto mehr verdichtet sich die Menschenmenge, und jetzt, da wir uns am Ende von Rotten-Row und Hydepark-Corner dem an der Südwestecke des Parkes befindlichen Thore nähern, sehen wir Stühle und Bänke von Hunderten von Herren und Damen in den elegantesten und manchmal geschmacklosesten Toiletten besetzt. Wir sehen die crême der englischen Gesellschaft vor uns, die sich dort täglich sieht, bewundert, beneidet, verlacht, Fußgänger und Reiter an sich vorüberziehen läßt und auch etwas mit einander spricht; denn die englische Sprache ist eine schweigsame Sprache, und wer „Auh“ und „Hauh“, „Yes“ und „No“, „All right“ und „well“ zu sagen im Stande ist, der kann schon eine längere Conversation führen. An’s Geländer lehnen sich nachlässig young swells and old bucks (junge Stutzer und alte Roués), beide außerordentlich gut gekleidet, beide mit einem „Monocle“ bewaffnet, beide mit einem ungeheuren Blumenstrauß im Knopfloch, beide in Lackstiefeln und Cylinder, die Jüngeren manchmal mit dem Ausdrucke, daß sie gar nichts gelernt haben, die Aelteren, daß sie eine Kunst gründlich verstehen: die Kunst, sich zu conserviren.

Alles Irdische ist vergänglich, und da das Leben in Rotten-Row auch irdisch ist, so muß es vergänglich sein. Die Probe auf diesen regelrechten Schluß kann man jeden Tag gegen zwei Uhr machen. Um diese Stunde ist die reitende und spazierengehende Gesellschaft verschwunden und widmet sich zu Hause dem ganz gewöhnlichen, vom Weisen gering geschätzten Hantiren des Essens und Trinkens. Gegen halb drei Uhr zeigt sich in Rotten-Row auch im Monat Mai eine solche Leere, wie den größten Theil des Jahres hindurch zu allen Tageszeiten; denn das gestalten- und farbenreiche Leben, dessen Zuschauer wir soeben gewesen sind, pulsirt in London nur drei Monate. Es besteht der große Unterschied zwischen England und Deutschland, daß die deutschen Familien, welche wohlhabend genug sind, um sich einen Land- und Stadtaufenthalt gestatten zu können, im Winter in der Stadt leben und den Sommer auf dem Lande zubringen, während in England der Stadtaufenthalt gewöhnlich in den Frühling und Sommer fällt. Der Adel und die reiche Welt vertauschen im Anfange des Frühlings ihr Landhaus mit ihrem Hause in London, wo im Mai die „season“ beginnt. Die oberen Zehntausend sehen sich alsdann und gönnen ihren Söhnen und Töchtern Muße, einander kennen zu lernen und Heirathen zu schließen.

Aber auch in der stillen Jahreszeit fehlt es dem Hydepark nicht an Reiz. Das berauschende, saftige Grün der Rasen und Bäume, welches die englische Vegetation charakterisirt, verblaßt in Hydepark natürlich früher, als auf dem Lande. Aber wenn sich ein schwerer gelber Nebel über die Straßen Londons gelagert hat, die Laternen selbst am Tage die nächste Dunkelheit nur nothdürftig zu durchbrechen vermögen, wenn die Gestalten der uns Entgegenkommenden plötzlich auftauchen, Farbe und bestimmtere Gestalt annehmen und an uns vorüberschreitend sich wieder in allmählich verblassende Schattenbilder auflösen, dann ist es manchmal in Hydepark verhältnißmäßig klar und nebellos. Wer müde und des Lärms der Stadt überdrüssig, ländliche Stille genießen möchte, der wendet das ganze Jahr hindurch seine Schritte gern nach dem schönen Parke.

Von zwölf bis zwei und von vier bis sechs Uhr rollt in Hydepark ein ungeheurer ununterbrochener Strom von Wagen auf dem Fahrwege an einander vorüber, Europäer und Amerikaner, Perser und Hindus, die als asiatische Touristen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegen und zu dem ihnen als Mentor dienenden englischen Rosselenker oft einen grellen Contrast bilden. Die Damen erscheinen wieder in Toiletten, die von ihrem Reichthume oder Credit, und manchmal auch von ihrem Mangel an Geschmack das unwiderleglichste Zeugniß ablegen. An einer gewissen Stelle nahe Hydepark-Corner, wo Reitweg und Fahrweg, einander schneidend, eine schmale Zunge bilden, sitzen wieder Hunderte von Damen und Herren und lassen mit größerer oder geringerer Gedankenlosigkeit die Reihe von Wagen an sich vorüberfahren. Die Stühle sind billig; denn man bezahlt für einen Sitz einen Penny (achteinhalb Pfennig).

Wer von hier auf Marble-Arch zuschlendert, sieht plötzlich die Fläche eines breiten, flußartigen Sees zu seiner Linken aufblitzen, der in der Nähe von Kensington Garden unter den Bohlen einer stattlichen Brücke verschwindet. Dies ist die berühmte Serpentine, eine der größten Zierden des Parkes. Gewöhnlich nur von Schwänen freiwillig und von Hunden unfreiwillig durchfurcht, bietet die Serpentine zuweilen Morgens und Abends der Londoner Bevölkerung, welche den Preis eines kalten Bades nicht erschwingen kann, eine Aufmunterung zur Reinlichkeit. Soll dieser Vorgang stattfinden, dann wird eine Flagge aufgehißt. Jung und Alt stürzt sich nun in die Fluthen des Sees und verweilt dort, bis die Flagge wieder herabgelassen wird.

Aber es ist nöthig, den Hydepark nicht nur an einem Werktage zu besuchen; man muß ihn auch an einem Sonntage sehen. Dann entfaltet sich dort ein buntes Volksleben. Die Arbeiter strömen schon am Morgen hinein, manche noch krankend an den Nachwirkungen der vorhergehenden lustigen Nacht. In stillen Winkeln geht die Flasche herum. Auf den grünen Rasenflächen liegt hier und da Einer dahingestreckt und liest sein Wochenblatt, mit welchem er nach beendigter Lectüre sein Gesicht bedeckt, um einen gesunden Vormittagsschlaf darunter zu halten. Wie praktisch die Engländer sind!

Doch erst am Nachmittage wird der Hydepark ein großer Volksgarten. Dann drängen sich auf den Wegen geputzte Köchinnen, hübsche Dienstmädchen, wohlgenährte Diener, elegante Kellner, mit Geschmack gekleidete Ladenmädchen, junge Commis, ernste Handwerker, die besseren Classen von Arbeitern, prächtige Gardisten, auf Urlaub befindliche Matrosen – alle im Sonntagsstaat. Die Soldaten, besonders natürlich die „schönen Kolosse“, verfehlen auch in diesem Lande nicht den Eindruck, den sie in anderen Ländern auf weibliche Herzen machen. Man erzählt sich sogar, daß manche der Damen, welche wir soeben vorzustellen die Ehre hatten, die Garde für ritterliche Begleitung bezahlen. Wie wohlhabend muß die Schöne auf unserer Illustration sein, die sich nicht nur das Heer, sondern auch die Flotte dienstbar macht!

Doch das englische Militär bethätigt sich noch auf eine andere, praktische Weise in dem weit ausgedehnten Hydepark. Unser[WS 1] Künstler hat eine Gruppe Soldaten dargestellt, welche ihre Fahnen schwenken. Es ist dies eine Zeichenverständigung zwischen zwei größeren Truppenabtheilungen, die einander nicht sehen können.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 754. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_754.jpg&oldid=- (Version vom 10.8.2023)