Seite:Die Gartenlaube (1882) 757.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


No. 46.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Der Stein des Tiberius.

Novelle von F. Meister.


Wir hatten den ganzen Abend vor dem Kaminfeuer gesessen und uns über unsern verstorbenen Freund Wilhelm Wenzel unterhalten, immer eingedenk der alten Regel, daß man die Todten ehren solle. Zu meiner Verwunderung hatte unser Gastfreund nur sehr spärliche Worte in die allgemeine Unterhaltung eingeflochten, obgleich gerade er mit dem Dahingeschiedenen ganz besonders vertraut gewesen. Als die Gesellschaft aber endlich aufgebrochen und ich allein bei ihm zurückgeblieben war, da warf er frische Kohlen auf das Feuer, reichte mir eine neue Cigarre, dampfte die seine eine Zeit lang still und gedankenvoll und erzählte mir dann die folgende Geschichte:

„Vor achtzehn Jahren,“ sagte er, „war ich in Rom; dort traf ich zum ersten Mal mit Wenzel zusammen. Ich lernte ihn kennen und fühlte mich gar bald von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit lebhaft angezogen, was eigentlich zum Verwundern war; denn ich war schon damals der stille, zurückhaltende Grübler, während in ihm bereits alle jene Schrullen und Excentricitäten zum Vorschein kamen, die ihn später für so Viele zum unleidlichsten Menschen machten. Er war cynisch, spottsüchtig, eigensinnig, von beißendem Witz, aber schärfstem Verstande. Allerdings war er dazumal noch jung, und im Schimmer der Jugend erscheinen gar viele unserer Fehler harmloser und unschuldiger, als sie wirklich sind. Wenzel aber hatte auch seine trefflichen Seiten; sonst hätte unsere Bekanntschaft wohl nicht zu einer wirklichen Freundschaft reifen können: sein Charakter war ehrlich und treu – trotz jener seltsamen Caprice, von der ich zu erzählen haben werde; meine Zuneigung für ihn entsprang nicht zum kleinsten Theil der Ueberzeugung, daß er, bei all seiner Eitelkeit, sein verschrobenes Wesen ebenso unangenehm empfand, wie andere Leute; das erweckte mein Mitgefühl. Er gab sich stets – und auch hier in Rom – den Anschein, als ob Alles ihn unerträglich langweile. Trotz alledem aber konnte er es nicht verhindern, daß ihn der Eindruck dieser oder jener Schönheiten oft so unvorbereitet traf, daß er geradezu überwältigt wurde; denn er war auch ein scharfer und feiner Beobachter, und wenn er einmal seinen guten Tag hatte, so gab es, dank seinen gründlichen Kenntnissen und seinem außerordentlichen Gedächtniß, keinen gediegeneren Kritiker und keinen belehrenderen und unterhaltenderen Gesellschafter als ihn. Mein Tagebuch aus jener Zeit wimmelt von gelehrten Gedanken und tiefsinnigen Vergleichen und Aussprüchen – das ist Alles Wenzel’s geistiges Eigenthum.

Trafen wir auf der Campagna den unvermeidlichen Hirten, der, Hände und Kinn auf seinen langen Stab gestützt, uns unter seinem dichten, wirren Haarwuchs hervor schwarzäugig anstierte, dann proclamirte ich denselben als den schönsten Kerl der ganzen Welt und bat auch wohl meinen Begleiter, zu verweilen, damit ich das wundervolle Genrebild mit wenigen Strichen skizziren könne, Wenzel aber wendete sich voll Abscheu und Verachtung von dem braunen Burschen ab, nannte ihn eine schmutzige Vogelscheuche und mich einen weibischen Salonpoeten. Die Sache lag aber einfach so: die Schönheit Italiens, die sich sowohl in den Menschen, wie in der Natur dort offenbart, verletzte und bedrückte meinen Freund. Er wußte und erkannte sich selber als einen Mißton in dieser Fülle süßer und weicher Harmonien – ein jedes Ding schien ihm hier zuzurufen:

‚Was gäbest Du wohl darum, wenn auch Du so heiter, so sorglos und ruhig, so liebenswerth und schön wärest, wie wir?‘

Und in der Tiefe seines Herzens war dies auch sein bitterer, schmerzlicher Wunsch. Um die ganze Bitterkeit des Neidgefühls, mit welchem die italienische Atmosphäre den armen Menschen erfüllte, zu verstehen, muß man sich in’s Gedächtniß zurückrufen, wie häßlich er gewesen. Und damals, mit dreißig Jahren, war er häßlicher, als später mit fünfzig; denn im Laufe der Jahre gewöhnte man sich daran, die Züge seines abstoßenden Satyrgesichtes sokratisch und distinguirt zu finden.

Unsere Freundschaft wurde fester und fester, und wir brachten täglich viele Stunden mit einander zu. Die schönsten darunter waren die, welche wir zu Pferde in der weiten Campagna verlebten. Der Winter war herangekommen; die Sonne schien so warm, wie hier in Deutschland im Monat Juni, und die Hügel und Ebenen lagen sommerlich grün in dem schimmernden, gelben Mittagslichte des italienischen Novembers.

Eines Tages bestiegen wir auf dem Grasplatz vor dem Lateran unsere Gäule und ritten hinaus in das Blachfeld, über welches der Claudinische Aquäduct seine träge Länge nur mühsam hinzuschleppen scheint; hier und da ist er thatsächlich unter der Last seiner Jahrhunderte stolpernd zusammengebrochen. Nach einem langen Ritt machten wir, nicht mehr weit von Albano, bei dem niederen Fragment einer Ruine Halt, banden unsere Pferde an einen in der Nähe stehenden Feigenbaum und schleuderten um das Getrümmer herum. Auf der sonnigen Seite desselben fanden wir im Grase einen schlafenden Menschen, einen jungen Mann, der mit dem Ausdrucke sorglosester Ruhe seinen Kopf auf einen Haufen pflanzenüberwucherter Steine gelegt hatte. Neben ihm gewahrten wir eine alte verrostete Flinte und eine leere Jagdtasche. Nach seinem festen Schlaf zu urtheilen, mußte man meinen, daß er heute schon einen langen, ermüdenden Marsch zurückgelegt, ohne Jagdbeute gemacht zu haben.

Ich blieb lediglich meinem damaligen Rufe und Charakter

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_757.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2023)