Seite:Die Gartenlaube (1882) 772 a.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Zwanglose Blätter. Beilage zur Gartenlaube Nr. 46, 1882.


An unsere Leser.

Die Fülle und die Hast, mit welchen gegenwärtig Erzeugnisse und Ereignisse des menschlichen Lebens und Strebens sich in die Oeffentlichkeit drängen, machen es dem großen Publicum zu einer überaus schweren Aufgabe, die einzelnen Gebiete der modernen Culturarbeit zu überschauen. Angesichts dieser Thatsache und in dem Bestreben, den Freunden der „Gartenlaube“ auch nach dieser Seite hin einen den gesteigerten Lebensbedürfnissen der Zeit entsprechenden Lesestoff zu bieten, eröffnen wir hiermit eine neue Rubrik unseres Blattes, deren Aufgabe es sein soll, einzelne Abschnitte des gesammten Culturlebens in knapper, aber zugleich anschaulicher und gewissenhafter Weise in den Bereich der Besprechung zu ziehen. Die hiermit in’s Leben tretenden

„Zwanglosen Blätter“

werden in willkürlich zu bemessenden Zeitabschnitten erscheinen und der „Gartenlaube“ gratis beigelegt werden. Jedes einzelne dieser Blätter wird einen streng abgegrenzten Culturzweig beleuchten, indem es einmal, wie das heute vorliegende erste Blatt, sich mit Besprechungen und Anzeigen von Novitäten des Büchermarktes, das anderemal etwa mit Beurtheilung neuer künstlerischer Erzeugnisse, alsdann vielleicht mit Vorführung hauswirthschaftlicher Erfindungen etc. beschäftigt.

Möchten die „Zwanglosen Blätter“ dazu beitragen, das Band freundschaftlicher Gesinnung, welches uns nun schon seit einer so langen Reihe von Jahren mit unsern Lesern verbindet, immer enger und dauerhafter zu knüpfen!

Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 




Literarisches.


Populäre naturwissenschaftliche Literatur. I. Unter den modernen Wissenschaften erfreut sich keine einer so großen Verbreitung, wie diejenige, welche die Erklärung der Naturerscheinungen zu ihrer Aufgabe macht. Ueberall, wo man durch Wort und Schrift das Volk belehrt, ist die populäre Naturwissenschaft vertreten: In den Vorträgen der Volksbildungsvereine gehört sie zu den hervorragendsten Punkten des Programms, und die Tagespresse sowie die belletristischen Wochenschriften bieten ihren Lesern mit Vorliebe populäre naturwissenschaftliche Artikel. Aber trotzdem ist die Nachfrage nach den neuesten Berichten aus den Laboratorien unserer Forscher so groß, daß in jüngster Zeit noch eine selbstständige Presse entstehen und aufblühen konnte, die einzig und allein die Verbreitung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse in den breitesten Schichten des Volkes erstrebt.

Von nicht so jungem Datum wie diese Journale sind die populären naturwissenschaftlichen Bücher. Die älteren Werke eines Moleschott, Bock, Vogt, Bernstein, Büchner und Häckel waren durchaus polemischer Natur, und ein entschiedener Kriegsruf ertönte aus jedem Capitel, das aus der Feder dieser Männer floß. Damals galt es vor Allem, der neuen auf der naturwissenschaftlichen Forschung begründeten Weltanschauung die Wege zu ebnen; damals mußte gegen die kindlich-biblische Auffassung der Weltentstehung der Kampf eröffnet werden; damals mußten die vielen Geister und „die übernatürlichen Kräfte“, welche angeblich die Naturerscheinungen hervorrufen und leiten sollten, aus den Gemüthern ausgetrieben werden. Heute ist dies nicht mehr in dem alten Umfange eine Forderung der Zeit, und so räumten denn zum Theil die Stürmer und Dränger in der populären Literatur ruhigeren Kämpen den Platz.

Nichtsdestoweniger erscheinen auch heute neben den ihrer Bestimmung nach gesinnungsblassen Schriften über allerlei Thier- und Pflanzenclassen, neben den rein belehrenden Büchern über die technische Anwendung der wissenschaftlichen Entdeckungen Werke, in denen etwas vom Flügelschlage des alten streitlustigen Geistes weht. Sie kommen wahrlich nicht ungelegen; denn wie klug auch unsere Zeit sich selbst erscheint, sie hat noch lange nicht alle Vorurtheile früherer Generationen abgestreift, und die Gesellschaft steht heute auf dem gefährlichen Wendepunkte, aus lauter Nützlichkeitsrücksichten in die öden Bahnen einer geistesleeren Reaction einzulenken. Unter solchen Umständen begrüßt man mit Freuden das Erscheinen von Schriften, denen man unter anderen Vorzügen auch den der Gesinnungstüchtigkeit nicht absprechen kann.

Ein solches Werk liegt heute auf unserem Büchertische; es ist Ludwig Büchner’s „Licht und Leben“ (Leipzig, Theodor Thomas 1882). Wir sind des stirnrunzelnden Eindrucks im Voraus gewiß, den die bloße Nennung von Büchner’s Namen in gewissen Kreisen hervorrufen wird. Der vielgeschmähete Verfasser von „Kraft und Stoff“ hat wohl viele Freunde, aber seine Feinde sind noch zahlreicher. Die letzteren werden vielleicht, ohne das neue Buch gelesen zu haben, sofort die Behauptung aufstellen, mit welcher von gegnerischer Seite Büchner’s „Kraft und Stoff“ schon bei seinem Erscheinen begrüßt wurde: Das Buch sei nur geschrieben worden, um einen persönlichen Skandal herbeizuführen. Nun wohl! Was die Gesinnung anbelangt, so unterscheidet sich dieses Büchner’sche Werk gar nicht von seinen Vorgängern, und wir sind weit entfernt davon, hierin einen Fehler zu erblicken; wir empfehlen vielmehr das Werk der Lectüre aller reiferen Leser. Für halbwüchsige Jungen und Backfische wird ja eine populäre Naturphilosophie überhaupt nicht geschrieben.

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir auf den Inhalt des auf den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft beruhenden Werkes näher eingehen. Wir theilen daher nur die Ueberschriften der drei Hauptabschnitte mit. Sie lauten: I. Die Sonne und ihre Beziehungen zum Leben. II. Der Kreislauf der Kräfte und der Welt-Untergang. III. Zur Philosophie der Zeugung. Gewiß erscheinen viele von Büchner’s Schlußfolgerungen sehr gewagt – wo aber in aller Welt finden wir einen Glauben, welcher der Menschheit die volle Wahrheit brächte, wo eine philosophische Schule, welche alle Räthsel des Daseins zu lösen vermöchte? Auch der Materialismus wird niemals dem nach absoluter Wahrheit dürstenden Geiste volle Befriedigung gewähren. Seine Ethik, wenn man von einer solcher überhaupt reden kann, gleicht überdies einem schwachen Kindlein, welches noch sehr der Hülfe der Menschen bedarf und am allerwenigsten schon jetzt dazu berufen ist, den Gewissen derselben eine Leuchte zu sein. Aber der, sozusagen, sachliche Theil des Materialismus wirkt auf die Gemüther erfrischend und erlösend; denn auf Grund unumstößlicher Thatsachen zertrümmert er die Götzen der starren dogmatischen Weltanschauung und fördert in uns nicht nur die Kenntniß der Natur, sondern auch die viel wichtigere Selbsterkenntniß.

Eine andere Frage ist es, ob man die neue Weltanschauung schon jetzt in den Schulen lehren soll. Dies verlangt selbst Ernst Häckel nicht, wie aus seinem auf der letzten Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte gehaltenen und durch die Presse bekannt gegebener Vortrage erhellt, welcher, durch Nachträge erweitert, soeben als Broschüre („Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck.“ Jena, Gustav Fischer) erschienen ist. In knapper, aber sehr klarer Weise schildert uns hier der Verfasser die Entwickelungsgeschichte jener neuen Weltanschauung, die schon von den griechischen Naturphilosophen geahnt und durch Darwin wissenschaftlich ausgebaut wurde. Die Lectüre dieser an der äußersten Grenze der populären Darstellungsweise stehenden Schrift möchten wir um so mehr unseren Freunden empfehlen, als Häckel von der Tagespresse in vielen Punkten durchaus mißverstanden und falsch beurtheilt wurde.

Wir beschließen hiermit unsern ersten des knappen Raumes wegen nur skizzenhaften Artikel über die populäre naturwissenschaftliche Literatur. In dem nächstfolgenden werden wir ähnliche Gewissensfragen nicht zu erörtern haben und dem Leser eine Reihe von interessanten Publicationen vorführen, die sich sowohl durch gediegenen Inhalt wie auch durch vollendete Form auszeichnen.


Ein neues Geschichtswerk. Wir sind in Deutschland nicht gerade reich an populären Geschichtswerken; giebt es doch ganze Zeitgebiete, die bisher nur im nüchternen Stil der akademischen Zunft geschildert wurden und noch der berufenen Feder harren, um in frischer volksthümlicher Darstellung dem Verständnisse der großen Leserwelt näher gerückt zu werden. Zu beklagen ist dies namentlich, soweit es sich um Geschichtsperioden handelt, welche der gegenwärtigen Gestaltung unserer nationalen Zustände vorbereitend vorangingen und ohne deren Kenntniß ein tieferes Verständniß der heutigen politischen und socialen Verhältnisse nicht denkbar ist. Mit um so größerem Danke müssen daher Werke willkommen geheißen werden, welche sich bestreben, die Kenntniß solcher uns nahe liegenden Epochen weitesten Kreisen zu erschließen.

Karl Biedermann’s „Dreißig Jahre deutscher Geschichte“ (1840 bis 1870) (Breslau, Schottländer) haben sich das nicht hoch genug anzuschlagende Verdienst erworben, diejenigen Jahre, welche recht eigentlich die Vorgeschichte der heutigen Dinge in Deutschland bilden, der Familie und dem Volke geschildert zu haben, die Jahre 1850 bis 1870, die ja zugleich die Geschichte des nationalen Gedankens in Deutschland von seinem Wiedererwachen an bis zu seiner endlichen staatlichen Verkörperung

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 1 der Beilage. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_772_a.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2023)