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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


No. 48.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Stein des Tiberius.

Novelle von F. Meister.
(Fortsetzung und Schluß.)

„Von dem Moment der soeben geschilderten Begegnung an nahm ich in unserer stillen Helene eine seltsame Veränderung wahr. Etwas Besonderes lag von jeher in ihrem Wesen, und ein großer Theil des Zaubers, den sie ausübte, bestand gerade darin, daß durch ihr gleichmäßig stilles Wesen unaufhörlich der leise Grundton zu klingen schien: ,Ihr meint mich zu kennen, aber ihr kennt mich noch lange nicht.‘ Nun, vielleicht waren wir drei prosaischen Menschenkinder, die wir ihre tägliche Umgebung bildeten, nicht auserwählt und würdig genug, sie recht zu erkennen, indessen, wenn mich eines Tages ein gewiegter Menschenkenner beim Rockknopf genommen und mir gesagt hätte, daß da in unserer Gesellschaft eine gewisse junge Dame sei, die ihren Freunden über kurz oder lang eine ganz ungemeine Ueberraschung zum Besten geben würde, dann hätte ich demselben Menschenkenner meinen Finger auf die Brust gesetzt und ihm lächelnd erwidert, daß er nur meiner eigenen Ueberzeugung Worte verliehen habe.

Ob in dem Verhältniß der beiden Verlobten während der letzten Zeit irgend eine Veränderung vorgegangen war, vermochte ich nicht mit Bestimmtheit zu erkennen, ich fühlte aber heraus, daß nicht alles so war, wie es sein sollte. Da Wenzel mir keinerlei Andeutungen machte, so brach ich endlich das Eis, indem ich ihn fragte, ob er wohl meine, daß Fräulein Dörpinghaus Grund gefunden habe, den großen Topas mit dem pittoresken jungen Manne in Verbindung zu bringen, den sie neulich in der Villa Borghese getroffen. Mein Freund fuhr empor.

‚Pittoresk hat sie ihn genannt?‘ fragte er. ‚Hat Helene Dir gesagt, daß sie den Kerl pittoresk fände?‘

‚Nicht doch! Das ist ihr nicht eingefallen. Aber er ist’s dennoch, so viel mußt Du ihm doch wenigstens zugestehen.‘

‚Hm, er hatte sein Haar mindestens acht Tage lang nicht gekämmt – wenn Du das meinst. Für solchen Vorzug dürfte Helene kaum empfänglich sein. Merkwürdig aber ist es allerdings, daß sie einen unbegreiflichen Widerwillen gegen den Topas empfindet. Sie behauptet, daß der Kaiser Tiberius ihr jede Freude an demselben verderbe. Das heißt nun, meiner Ansicht nach, die historischen Antipathien etwas weit treiben; bisher glaubte ich, daß einem hübschen Weibe durch nichts der Geschmack an blitzendem Edelgestein zu verleiden wäre. – Uebrigens steht fest, daß jener Vagabund sie damals angeredet hat.‘

‚Und was hat er ihr gesagt?‘

,Er fragte sie, ob sie meine Verlobte sei.‘

,Was erwiderte sie darauf.‘

‚Nichts.‘

,Sie wird erschrocken gewesen sein.‘

‚Möglich! Sie behauptet aber das Gegentheil. Zudem bat er sie, sich nicht vor ihm zu fürchten; er sei ein armer, harmloser Mensch, der nur sein Recht haben wolle. Sie entgegnete kein Wort und ließ ihn stehen. Ich sagte ihr, der Kerl sei wahnwitzig – und das ist nicht gelogen.‘

‚Vielleicht nicht,' erwiderte ich. Dann machte ich noch einen letzten Versuch, meinen Freund von dem Unrechte zu überzeugen, das er Angelo gegenüber begangen. ‚Höre, Wenzel,' sagte ich, ‚wenn heute Einer behauptete, in Deinem eigenen Unterscheidungsvermögen befände sich auch eine bedenkliche Verschiebung, so wäre das ebenfalls nichts gelogen. Ich habe hier den Topas im Sinne. Wenn Halsstarrigkeit unter gewissen Umständen über alle Grenzen getrieben wird, so erhält sie unbestreitbar eine verhängnisvolle Aehnlichkeit mit dem Wahnsinn.'

Wenzel lächelte kalt und abweisend.

‚Daß dergleichen Umstände hier vorhanden sind, bestreite ich,‘ sagte er. ,Und wenn ich verrückt bin, so nehme ich das Privilegium aller Verrückten für mich in Anspruch. ich halte mich für durchaus zurechnungsfähig. Wenn Du mir Moral predigen willst, dann mußt Du schon einen meiner lichten Momente zu diesem Zweck abwarten.‘ – –

Der erste Odem des jungen Frühlings übt einen fast magischen Einfluß auf die finstere, alte Siebenhügelstadt aus, hat dabei aber zugleich atmosphärische Uebelstände im Gefolge, die den Constitutionen der in Rom weilenden Fremden allerlei Ungemach zu bereiten pflegen. Es dauerte auch gar nicht lange, da begann der bereits vierzehn Tage hinter einander rasende Scirocco über das sonst so heitere und gleichmäßige Temperament der guten Frau Dörpinghaus einen Schleier krankhafter Schwermuth zu werfen. Sie glaubte das Malariafieber schon in ihren Adern zu fühlen. Der eiligst consultirte Arzt aber beruhigte sie wieder, rieth ihr einfach einen Wechsel des Aufenthaltes und empfahl ihr, zunächst einmal auf einige Wochen ihren Wohnsitz nach Albano zu verlegen. Demzufolge wurde sofort gepackt, und die beiden Damen siedelten, unter Wenzel’s Escorte, nach Albano über. Ich selber mußte aus verschiedenen Gründen in Rom zurückbleiben, dafür aber der liebenswürdigen Wittwe das Versprechen geben, sie sobald wie möglich in Albano zu besuchen.

Obgleich ich über den Gesundheitszustand der Frau Dörpinghaus etwas beunruhigt war, mußte ich doch acht Tage vergehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_789.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)