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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Ich entgegnete ihr, daß eine solche Auseinandersetzung gegenwärtig peinlich und zwecklos sein würde; sie mußte mir aber versprechen, morgen ganz früh mit Sack und Pack nach Rom zurückzukehren; dort könnte man Athem schöpfen und die Sache mit Muße überlegen.

‚Morgen reisen wir,‘ sagte sie, ‚darauf können Sie sich verlassen.‘

Damit trennten wir uns. Als ich die Treppe zu meiner Kammer emporstieg, hörte ich Frau Dörpinghaus an Helenens Thür klopfen. Sie klopfte noch einmal; Niemand öffnete. Sie klopfte zum dritten Mal, und als im Zimmer auch dann sich nichts rührte, zog sie sich langsam zurück, und ich ging in meine Kammer. Lange stand ich hier am Fenster. Nach einiger Zeit suchte ich mein Bett auf, und gegen Morgen schlief ich ein.

Das Frühstück wurde am nächsten Tage in dem gemeinschaftlichen Zimmer eingenommen; Wenzel erschien so pünktlich wie immer und dabei so sauber rasirt und gebürstet, als stände er nach wie vor unter der Botmäßigkeit jener großen, blauen Augen. Sicherlich wußte sein Inneres nichts von der Ruhe, die er äußerlich zur Schau trug; denn ohne allen Zweifel ist es ein unbehaglich Ding, beim Frühstück der Dame gegenüber sitzen zu müssen, die einem am Abend vorher die Brautschaft aufgekündigt hat.

Frau Dörpinghaus ließ lange auf sich warten; endlich erschien sie, aber athemlos und außer sich. Ihr hübsches Gesicht glühte; in ihren Augen funkelten Thränen der Entrüstung; sie hielt ein zusammengeballtes Papier in der Hand.

‚Sie ist fort!‘ rief Frau Dörpinghaus und warf sich schluchzend auf’s Sopha. ‚Sie ist fort! O das schlechte, das tollköpfige, das undankbare Mädchen!‘

Für Wenzel war dieser ganze Vorgang ein Räthsel, nicht so für mich, obgleich auch ich mich auf das Höchste überrascht fühlte. Er stand stumm da, als seine Schwester das zerknitterte Papier auf den Tisch warf. Daß Helene über Nacht auf und davon gegangen sein sollte, das war eine Ungeheuerlichkeit, die er so unvorbereitet gar nicht zu fassen vermochte. Dieses dumpfe Erstaunen war zugleich ein rührendes Zeichen davon, wie gänzlich fremd seinem

Am Wegweiser. 0Nach dem Oelgemälde von F. Streitt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_792.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2023)