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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Französische Dichter und Deutschland.

Seit dem Attentat des Herrn Deroulède auf den deutschen Turnverein in der Rue Saint-Marc, einem Attentat, das, abgesehen von der verstimmenden Absicht, allerdings einen friedlichen Verlauf nahm, fehlt es in Frankreich nicht an Symptomen, daß die nationale Erregung gegenüber Deutschland in gewissen Kreisen im Zunehmen, daß das Deutschthum besonders in einigen hervorragenden Pariser Salons, welche sonst eine internationale Bedeutung in Anspruch nehmen, geächtet ist. Deroulède ist ein lyrischer Dichter; in seiner Zeitschrift „le Drapeau“, dem Organ der patriotischen Liga, an deren Spitze er steht, finden sich viele poetische Ergüsse, in denen ein glühender Haß gegen die Sieger von Sedan sich ausspricht; er will mit seiner mäßigen Begabung der Theodor Körner des neuen Frankreichs sein; er eilt ihm voraus mit der Fackel der Dichtung, die er in die Fackel des Krieges verwandeln möchte.

Die Dichter sind ebensowohl die Herolde wie die Schöpfer der öffentlichen Meinung; ihre Gedichte sind ein Echo des nationalen Gewissens. Wer einer Nation an den Puls fühlen will, der muß auf die Herzschläge ihrer Poesie achten. Freilich, es giebt einsame Sänger, die gegen den Strom schwimmen und aus irgend einem Patmos besonderer Offenbarung lauschen; es giebt Dichter, welche Prediger in der Wüste sind, wir sprechen aber von denen, welche sich von den Wellen des öffentlichen Lebens tragen lassen, und deren Stimme ertönt aus der Mitte der tonangebenden Hauptstädte heraus; wir sprechen von denen, welche die Losungen des Tages in ihre Verse aufnehmen und mit jener akustischen Verstärkung wiedergeben, die der Poesie eigen ist. Und da ist es ein beachteswerthes Symptom der Stimmung in Frankreich, daß jetzt, nachdem bereits zwölf Jahre seit dem großen Kriege dahingegangen sind, die kriegerische Wendung gegen Deutschland in den poetischen Ergüssen der französischen Dichter immer lebhafter und stürmischer wird.

Doch ehe wir uns zu den Kleinen wenden, wollen wir die Großen zu Worte kommen lassen. Da ist der Veteran der französischen Poesie, Victor Hugo, ein politischer Lyriker ersten Ranges, der alle Weltereignisse, die er miterlebte, in schwunghaften Gedichten besungen hat. In seiner Jugend feierte er die Bourbons und das Kaiserthum; in seinem Alter widmete er dem Kaiser Napoleon dem Dritten, der ihn in die Verbannung geschickt, seine „Châtiments“ („Züchtigungen“), welche mit bitterstem Grolle, mit tiefeinschneidender und vernichtender Schärfe geschrieben sind; die Ereignisse des deutsch-französischen Krieges und des Commune-Aufstandes aber hat er in der Gedichtsammlung „L’année terible“ („Das schreckliche Jahr“) mit den elegischen Klängen seiner Lyra begleitet. Diese Sammlung liegt jetzt in der neunundzwanzigsten Auflage vor — ein Beweis dafür, welch andauernd lebhaftes Echo diese Gedichte noch im französischen Volke finden.

Victor Hugo ist ein großer Poet; es giebt zwar viele kleine Leute des deutschen Parnasses, welche dies leugnen wollen, weil ihnen alle tiefe, schwunghafte, gedankenvolle Poesie gegen den Strich geht, aber die Aquarellbildermaler und Ausschneider von Genrebildchen, die an die Neu-Ruppin’schen Bilderbogen erinnern, werden das Piedestal nicht aus dem Wege räumen, auf dem die großen Dichter aller Zeiten standen und aus dem auch Victor Hugo steht.

Es ist wahr, er erscheint als verworrener Phantast, wenn er den poetische Dreifuß mit dem politische vertauscht, und auch seine Muse hat ihre Marotte, ihre Unarten, ihre versteinerten prophetischen Gesten, eine oft verwirrende Mosaik von Bildern, welche sie aus allen Zonen und aus allen Zeiten zusammenträgt: doch wie edel und hinreißend ist ihr Schwung, wie unerschöpflich groß ihr Gedankenreichthum, welche genialen Witze umzucken sie, wenn sie ihr olympisches Haupt schüttelt! Und wie bewundernswerth ist ihre Jugendlichkeit! In den Werken des achtzigjährigen Dichters herrscht noch dasselbe Feuer, wie in den „Herbstblättern“ und „Dämmerungsgesängen“ des jungen Poeten. Wohl finden sich hier und dort greisenhafte Wendungen, eine zitterige Nachschrift der schwunghaften Züge seiner Jugend; doch wie verschwinden einige verblaßte Verse gegen die anderen, in denen ein lebensfreudiges Genie pulsirt, besonders bei der großen Fülle der gebotenen poetischen Gaben, und welchen steifen und verschnörkelten poetische Stil schrieb unser großer Dichter Goethe in dem gleichen Alter!

Victor Hugo ist früher kein Feind der Deutschen gewesen; die deutsche Sagenwelt hat ihn mächtig angezogen; hat doch die romantische Schule Frankreichs zum Theil in deutscher Poesie ihre Wurzeln geschlagen. Man lese seine „Briefe vom Rhein“ aus dem Jahre 1839: wie vertieft er sich in die geschichtlichen Erinnerungen, in die Sagenwelt des Rheins, wie giebt er sich dem landschaftlichen Zauber hin, der die Ufer des deutschen Stromes umschwebt!

Diese Briefe sind allzu sehr in Vergessenheit gerathen: es finden sich Bemerkungen darin, welche für die heutige Zeit von besonderem Interesse sind. Natürlich nimmt Victor Hugo das linke Ufer des Rheins für Frankreich in Anspruch. Doch erscheint er gleichzeitig als ein nicht unglücklicher Prophet, wenn er Preußens künftige Größe vorher verkündet: er findet es abgeschmackt, daß das alte Preußen von den Rheinlanden durch sich dazwischenschiebende Staaten getrennt wird. Das könne nur eine provisorische Lage sein.

„Preußen strebt darnach,“ sagt er, „ein großes zusammenhängendes Königreich zu werden, mächtig zu Land und Meer, und es wird dieses Ziel erreichen.“ „Für Hannover,“ heißt es weiter, „ist die Einverleibung in Preußen ein großer Schritt zur Freiheit, Würde und Größe; für Preußen bedeutet der Besitz von Hannover den Zusammenschluß des Staates, das Forträumen aller Hindernisse der Verbindung, die Vereinigung der Rheinlande mit dem alten Preußen.“

So hat Victor Hugo im Jahre 1839 das Jahr 1866 prophezeit und die Annexion gerechtfertigt; auch in der Vorrede zu den „Burggrafen“, einem Drama, zu welchem ihn seine Rheinreise begeistert hat, spricht er „von dem großen kriegerischen Messias, den Deutschland erwartet“, von dem wiedererstandenen Kaiser, während er sich darüber zu rechtfertige sucht, daß er einen deutsche Stoff für die französische Bühne behandelt. So wenig litt der junge Victor Hugo an Deutschenhaß, daß er in dem großen Monologe des „Hernani“ von dem jungen Karl dem Fünften sogar Karl den Großen einen „Kaiser Deutschlands“ nennen läßt, was man jetzt in Frankreich als eine strafwürdige Ketzerei betrachten würde.

Nach dem „schrecklichen Jahr“ unseres Dichters ist das nun freilich anders geworden; die Deutschen haben sich auf einmal in Barbaren, in Hunnen und Vandalen verwandelt, ja Victor Hugo schlägt hier Töne an, die eines großen Dichters ganz unwürdig sind, indem er Zeitungslügen in pomphafte Verse bringt. Da erscheint ihm die Gaunerei als Schwester der Eroberung: auf den Rücken des Siegers hebt man einen Bettelsack, und während man darauf wartet, Elsaß und Lothringen zu gewinnen, begnügt man sich damit, eine Uhr vom Nagel eines Uhrmachers zu stehlen. Man will unermeßlichen Ruhm sich erwerben, aber man findet, daß es schade sei, einen Spiegel zu zerbrechen, und besser, ihn fortzutragen. Gewiß zieht man die Ehre allem Andern vor, doch der Mensch braucht Tabak, und man stiehlt ihn. Mitten im Getümmel eines Krieges, in welchem der Zwerg Napoleon das große Frankreich ausliefert, auf diesen Schlachtfeldern, wo Marceau, Hoche und Condé fehlen, während Metz verkauft und Straßburg bombardirt wird, denkt man an seinen kleinen Hausstand und wie man die Geliebte ausmöblirt auf Kosten der Besiegten. Mit fünf Milliarden kehrt man in die Walhalla zurück, in Räubereien den schielenden Beduinen und den stumpfnasigen Baschkiren ähnlich; Schinderhannes setzt die falsche Nase des Gottes Mars auf. Das ist eine kleine Blüthenlese aus diesem widerwärtigsten Gedichte der Sammlung, in welchem der Ton eines an die Straßenecken angehefteten Pasquills herrscht.

Trotz aller poetischen Schmähungen kann sich der alte Victor Hugo nicht ganz verleugnen; in seinem Herzen ist noch ein Winkel, wo die jugendliche Begeisterung für den deutschen Geist nicht ganz verglommen ist, und aus dieser glühenden Asche schlägt wie eine Flamme ein Hymnus auf Deutschland empor, den man mit größtem Erstaunen unter diesen Schmähgedichten findet, ein Hymnus, wie ihn schöner und schwunghafter kaum ein deutscher Sänger gedichtet hat und dessen einziger Fehler in der Ueberschwänglichkeit der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_796.jpg&oldid=- (Version vom 24.8.2023)