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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

einen Büffel und eine Anzahl Hammel. Die Thiere werden an einem bestimmten Platz des Friedhofes geschlachtet, zerlegt und mit den anderen Eßwaaren unter die Armen vertheilt, die sich bei solchen Gelegenheiten aus allen Gegenden der Stadt in großer Menge einfinden.

Die Mohammedaner haben auch einen Feiertag im Jahr, der, ähnlich wie der Allerseelentag der Katholiken, dem Andenken der Verstorbenen ganz besonders gewidmet ist, nämlich den zweiten Tag des Beiramfestes nach Schluß des Ramadan, des allgemeinen Fastenmonats. Alsdann ziehen schon am Vorabend jenes Tages viele Tausende, aber fast nur Frauen, nach den Friedhöfen hinaus; alle tragen Palmenzweige, Brod und Früchte, die begleitenden Kinder aber große Papierlaternen; der Zug dauert die ganze Nacht hindurch und hat etwas ungemein Feierliches und Ergreifendes. Auf dem Friedhofe begeben sich die Theilnehmer zu den Gräbern ihrer Angehörigen, um dort zu beten und den übrigen Theil der Nacht mit Besuchen ihrer Bekannten auf anderen Gräbern zu verbringen. Vornehme Damen ziehen wohl auch auf Eseln oder Kameelen hinaus und lassen sich ein Zelt aufschlagen, in welchem sich alsdann eine zahlreiche Gesellschaft versammelt und oft mehrere Tage zusammen bleibt. Für die Mohammedanerinnen, die bekanntlich sonst streng überwacht werden, ist jenes Fest ein Freiheitsfest, das viele von ihnen auch sehr gut zu benutzen wissen, vorzüglich in großen Städten, wie in Kairo, wo Liebesabenteuer bei solchen Gelegenheiten nichts Seltenes sind.

Eigenthümlich, aber den Sitten des Orients vollkommen entsprechend, sind auch die vor dem Friedhofe an jenen Tagen errichteten russischen und gewöhnlichen Schaukeln mit lautem Schellengeklingel, ferner die Kaffeezelte mit Märchenerzählern, die Buden mit Eßwaaren und Zuckerwerk, auch die Schaustellungen von Equilibristen und dem beliebten „Karagös“, dem türkischen Hanswurst, dessen derbe Späße nirgends fehlen dürfen.

Im Allgemeinen machen aber die mohammedanischen Friedhöfe einen tristen und monotonen Eindruck, schon durch die schmucklose Gleichheit der Gräber, die sämmtlich einander fast zum Verwechseln ähnlich sehen. Von Blumenschmuck, wie auf christlichen Friedhöfen, ist vollends keine Rede; selbst Bäume sind selten, obwohl einige Friedhöfe in Syrien und Palästina und vornehmlich ein berühmter bei Constantinopel, den wir weiter unten noch besonders beschreiben werden, davon eine Ausnahme machen. Jene Einförmigkeit wird jedoch in etwas durch die sogenannten Schechgräber unterbrochen, deren man auf großen Friedhöfen sehr viele antrifft. Es sind dies viereckige, würfelförmige Bauten von ziemlicher Höhe, deren Bedachung eine Kuppel bildet, unter welcher der „Heilige“ oder sonst ein angesehener Bekenner des Islam, ein Schech, begraben liegt. Heilige giebt es nämlich im Orient eine unzählbare Menge, wenn auch die meisten derselben so absonderlicher Art sind, daß man sie nach unseren Begriffen weit eher Verrückte nennen möchte, aber in ihrer mohammedanischen Heimath stehen sie, sowohl bei Lebzeiten wie auch nach dem Tode, in großer Verehrung.

Je toller sie sich geberden und je nackter und schmutziger sie umherlaufen, um so „heiliger“ erscheinen sie dem Volke, und die Frauen der unteren Classen wallfahren, in lange Schleier gehüllt, an bestimmten Tagen zu ihrem Grabe und singen dort bei angezündeten Kerzen halbe Nächte lang ihre disharmonischen Klagelieder, welche sie mit dem unaufhörlichen Getrommel der Tarabukka zu begleiten pflegen.

Einzelne Derwischorden haben bestimmt abgegrenzte Plätze auf den Friedhöfen, wo nur Mitglieder ihrer Genossenschaft begraben werden dürfen. Diese Derwische ziehen gleichfalls an bestimmten Abenden in langen Reihen, unter Vorantragung ihrer mit Koransprüchen gestickten grünen Fahnen und mit ihren großen weißen Papierlaternen auf jene Gräber hinaus, um dort einen sogenannten „Zikr“ abzuhalten, eine seltsame Art von Gottesdienst, bei welchem sie im Kreise sitzen und unter beständigem Hin- und Herschaukeln des Oberkörpers nichts wie „Allah, Allah!“ rufen und zuletzt wie Besessene toben, daß man meint, eine Gesellschaft von Verrückten vor sich zu haben. Das sind die im ganzen mohammedanischen Orient bis weit nach Indien hinein verbreiteten heulenden Derwische, zu denen sich oft noch die tanzenden gesellen, die sich minutentang mit weit ausgestreckten Armen und erstaunlicher Geschwindigkeit wie Kreisel drehen. (Vergl. „Gartenlaube“ Nr. 28, Jahrg. 1871.)

Doch wenden wir uns von diesen kläglichen Auswüchsen des Islam, die übrigens auch von allen verständigen und gebildeten Mohammedanern streng verdammt werden, ab und einem würdigeren Bilde zu, das uns die Ruhestätte mohammedanischer Todten in ihrer vollen Schönheit zeigt! Es ist dies der türkische Friedhof von Kadi-Kjoï bei Constantinopel, der unweit Skutari, also auf asiatischem Boden liegt und den Lord Byron den „schönsten Friedhof der Welt“ genannt haben soll; er ist die größte und auch wohl erhabenste Gräberstadt der Mohammedaner und der Hauptfriedhof von Stambul, weil die gläubigen Türken ihn als einen ganz besonders geheiligten Ort ansehen. Dies beruht auf einer alten Prophezeiung, nach welcher die Herrschaft des Halbmondes in Europa nur vierhundert Jahre dauern und dann untergehen soll, freilich um in Asien und Afrika dann nur desto glänzender fortzuleben.[1] Dieser Zeitpunkt war eigentlich schon im Jahre 1853 eingetreten; denn gerade vierhundert Jahre früher (1453) erfolgte die Eroberung Constantinopels durch die Türken und mit ihr der Untergang des oströmischen (byzantischen) Kaiserreiches. Als daher im Jahre 1854 der Krimkrieg ausbrach, meinten die Türken bereits, die gefürchtete Stunde habe geschlagen, was auch wohl der Fall gewesen, wenn nicht die Franzosen und Engländer ihnen gegen die Russen zu Hülfe gekommen wären. Trotzdem lebt die Prophezeinng im türkischen Volke fort, und mehr als zuvor läßt sich heute jeder gute Mohammedaner, wenn er die Kosten irgend erschwingen kann, in Kadi-Kjoï, also in asiatischer Erde, begraben, um nicht etwa später bei den Ungläubigen zu ruhen.

Einen ernsteren und erhabeneren Friedhof als diesen dürfte es aber auch wohl kaum auf der Welt geben. Viele christliche Gottesäcker – und namentlich manch berühmter Campo santo in Italien mögen schöner und durch ihre Denkmäler und Mausoleen prächtiger sein, aber die eigentliche Friedhofsruhe, die einsame und stille Majestät des Grabes findet sich nirgends so wie in Kadi-Kjoï. Uralte Cypressen, deren Alter nach Jahrhunderten, ja oft nach halben Jahrtausenden zählt, bilden stundenlang ein dunkles Schattendach, und wo die kolossalen Stämme einen Durchblick gestatten, sieht man nichts als den glänzenden Meeresspiegel, der seine hellen Lichter auf die meist nur schlichten weißen Grabsteine wirft. Unzählige dieser Steine sind verwittert und zerfallen, aber die Ruhe der darunter Schlafenden wird dadurch nicht gestört; denn der Islam verbietet streng die Rückgabe der Gräber, gleichviel nach welcher Reihe von Jahren, zur Bestattung neuer Geschlechter.

Vom jenseitigen Ufer des Bosporus sieht man häufig und meist in den Abendstunden die mit grünen Tüchern verhangenen Boote herübergleiten, in denen die Leichen nach Kadi-Kjoï befördert werden; Stand und Vermögen der Verstorbenen machen natürlich auch hier einen Unterschied. In jüngster Zeit versehen sogar kleine Dampfer die Ueberführung vornehmerer Leichen, doch der strenggläubige Mohammedaner zieht hier die einfachere Weise des Transports mittelst des gewöhnlichen Leichenbootes vor, wie er ja auch auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka Dampfschiffe und Eisenbahnen vermeidet. Oft folgen aber in einem zweiten Boote die Leidtragenden, und Andere sind schon voraufgefahren, um den Todten auf dem Friedhofe zu empfangen und ihm die letzten Ehren zu erweisen.

Ich habe oft solchen abendlichen Leichentransporten über den Bosporus zugesehen. Es ist ein feierlicher Anblick. Die im Marmarameere versinkende Sonne sendet noch einmal ihre Strahlen auf die Riesenstadt und übergießt die vielen hundert Kuppeln und Gebetthürme und alle Dächer der höhergelegenen Paläste und Gebäude mit rother Gluth; die zahllosen Fenster der Landhäuser auf den Terrassen von Pera und Galata funkeln wie flüssiges Gold, und hoch am Himmelsgewölbe schwimmen helle Rosenwolken – nur der Cypressenwald von Kadi-Kjoï steht dunkel und ernst da, ein lautmahnender Gegensatz der schweigsamen Stätte der Todten zu der gegenüberliegenden daseinsfrohen Welt der Lebendigen.



  1. Was Afrika betrifft, so sieht es dort wegen der französischen Suprematie in Tunis und mehr noch wegen der englischen in Aegypten augenblicklich mit dieser Prophezeiung bös aus, und auch die asiatische Türkei erweckt in dieser Beziehung keineswegs sehr günstige Aussichten. D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_800.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2023)