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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

‚Vergieb mir, Conrade,‘ bat ich, ‚ich komme.‘

Und ich kam. – Hedwige war schon vor mir oben; die Base hatt’ rothbäckige Aepfel in die Röhre gelegt, die Oellampe angezündet und den Docht fein säuberlich geputzet; so saßen wir Drei um das Tischlein am Ofen, traulich und warm; draußen aber fegte ein kalter Herbstwind die Blätter von den Bäumen.

Von einem Engländer, Namens Shakespeare, sei die Komodie ersonnen, begann Conradus; ein wundersam Liebesgedicht, so kein schöneres erfunden werden könne, ‚Romeo und Julietta‘, verdeutschet vom Durchlauchtigsten Herrn Landgrafen Georg dem Dritten von Hessen-Darmstadt, zubenannt: der Gelehrte.“

(Fortsetzung folgt.)




Schule und Gesundheitspflege.

Noch einmal ein Blick auf die Ueberbürdungsfrage.

In den Händen der Jugend liegt die Zukunft des Vaterlandes: was zu deren Erziehung und Heranbildung gethan wird, dient nicht blos ihr selbst, den einzelnen Individuen, es gewährleistet auch den geistigen und sittlichen Zusammenhang der zukünftigen Gesammtheit mit der gegenwärtigen, den ideellen Fortschritt. Und darum hat an der Jugenderziehung der Staat ein ebenso großes Interesse, wie der Einzelne selbst; darum ist dieselbe zu allen Zeiten und in allen civilisirten Nationen ganz vorzugsweise ein Gegenstand besonderer staatlicher Fürsorge gewesen. Auf diesem Gebiete blos den Wetteifer der Einzelnen walten zu lassen, das würde auf eine Verkennung aller realen und idealen Grundlagen des staatlichen Seins schließen lassen.

Das griechische Gesetz befreite denjenigen, dem von seinem Vater nicht die genügende geistige und körperliche Ausbildung zu Theil geworden war, von der Pflicht, den Vater im Falle der Erwerbsunfähigkeit zu unterstützen. Zu der Idee des allgemeinen Schulzwanges sich emporzuarbeiten, ist erst der neuesten Entwickelung und hier wieder zuerst unserem eigenen Vaterlande vorbehalten geblieben.

Wit Stolz dürfen wir sagen, daß wir in Bezug auf allgemeine Verbreitung eines gewissen Maßes geistiger Bildung unter allen Classen der Bevölkerung den übrigen Culturnationen ein gutes Stück vorangeeilt sind. Wir haben uns in Folge dessen daran gewöhnt, unsere Methode der Schulerziehung für so unbedingt vortrefflich zu halten, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger kaum wagt, an irgend einem pädagogischen Institute ernstlich zu rütteln. Und wenn nicht die Regierung selbst hier und da noch durchgreifende Reformen auf dem Gebiete des Schulwesens zur Durchführung brächte, wie dies noch neuerdings durch die theilweise Aenderung des Lehrplans der Gymnasien und Realschulen in dankenswerthester Weise geschehen ist: wir würden uns längst an den Gedanken gewöhnt haben, daß hier Verbesserungen überhaupt unnöthig, wenn nicht unmöglich seien. Und doch sind Reformen auf diesem Gebiete so sehr nöthig. Daß aber das Gefühl dieser Nothwendigkeit heutigen Tages ungemein rege ist, das beweist unter Anderem der Umstand, daß erst in jüngster Zeit, angeregt durch eine Brochüre des Amtsrichters Hartwich zu Düsseldorf[1], in den Rheinlanden eine Bewegung erwachsen ist, welche weit über den eigentlichen Sitz ihrer Thätigkeit hinaus allgemeine Beachtung verdient und dieselbe selbst im Auslande schon gefunden hat. Der Verfasser jener Broschüre wirft mit voller Klarheit und Energie die Frage auf, ob wir nicht, hingerissen von dem Streben nach allgemeiner Verbreitung geistiger Bildung, in ein Extrem des Zuviellernens gerathen sind, welches für unsere nationale Entwickelung verhängnißvoll werden kann.

Während man sich bisher mit allgemeinen Klagen begnügt hat über den in erschreckendem Maße zunehmenden Procentsatz von Kurzsichtigen, über die Masse von zum Militärdienst Untauglichen, über die Zunahme des Procentsatzes der Irren, wird hier zum ersten Male auf den Kern der Frage eingegangen, eine offene Antwort mit dem Muthe der Ueberzeugung gegeben, zugleich aber auch ein Versuch zur praktischen Lösung der Frage gewagt.

Der von Hartwich begründete und gleich näher zu charakterisirende Verein zählt schon nach Tausenden von Mitgliedern und hat von seinem Centralsitz Düsseldorf aus schon eine ganze Reihe von Zweigvereinen begründet, sodaß ihm für die Dauer eine praktische Bedeutung und weitgreifende Wirksamkeit nicht fehlen wird. Es dürfte daher der Mühe verlohnen, die allgemeine Aufmerksamkeit einmal auf die Bewegung zu lenken, die, man mag sie billigen oder nicht, jedenfalls von der einschneidendsten Tragweite für unser gesammtes sociales und culturelles Leben zu werden verspricht.

Die ganze Bewegung steht und fällt mit der Frage: kann es auf dem Gebiete der Erziehung in der Schule ein „Zu viel“ der eingeprägten Kenntnisse geben? Hartwich – und mit ihm die Anhänger seiner Anschauungen – trägt kein Bedenken, auf diese Frage mit einem überzeugten „Ja“ zu antworten, dem wir nicht umhin können, uns anzuschließen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der That die Anforderungen, welche an das noch junge und der Entwickelung bedürftige Gehirn unserer Schuljugend gestellt werden, erheblich verringert werden können, ohne daß wir von der Höhe unserer wissenschaftlichen Bildung auch nur um eine Stufe herunterzusteigen brauchen. Schreiber dieser Zeilen hat das vor einiger Zeit in der „Gegenwart“ an einem speciellen Beispiel, an dem geographischen Unterricht auf den deutschen Gymnasien, zu erweisen versucht, und die Unterrichtsverwaltung selbst hat es, wenn auch nur indirect, durch die Veränderungen zugestanden, welche sie in dem reformirten Lehrplane, namentlich bei dem Unterricht in den alten Sprachen, getroffen hat. Aber es kann und muß noch viel mehr geschehen, wenn wir nicht schließlich dahin kommen wollen, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger zwar ein beträchtliches Maß aller möglichen brauchbaren und unbrauchbaren, verdauten und unverdauten Kenntnisse besitzt, dafür aber physisch verkommt und die Geschmeidigkeit und Elasticität des Körpers verliert, ohne die jede, auch die geistige, Thätigkeit für die Dauer unmöglich ist.

Bevor wir die Möglichkeit einer solchen Reduction der Anforderungen erweisen, wollen wir zunächst feststellen, ob und warum eine solche nothwendig ist: denn jede Aenderung einer Einrichtung, deren Vorzüge im Großen und Ganzen unbestritten sind, bedarf der Begründung ihrer inneren Nothwendigkeit. Wir dürfen hier unsere Leser im Allgemeinen auf die Ausführungen Hartwich’s verweisen, deren weite Verbreitung trotz aller Mängel, welche dieselben im Einzelnen enthalten, nicht genug empfohlen werden kann, und können uns hier mit der Anführung der Hauptgesichtspunkte und einiger Ergänzungen zu den Darlegungen desselben begnügen.

Man wird im Allgemeinen annehmen dürfen, daß geistige Arbeit im von der freien Luft abgeschlossenen Raume die körperlichen Organe wenigstens ebenso sehr anstrengt und ebenso viel Lebenskraft absorbirt, wie körperliche. Ja, das von der ersteren hauptsächlich in Anspruch genommene Organ, das Gehirn, wird wahrscheinlich, weil eben die Thätigkeit eine organisch concentrirtere ist, noch in erheblich höherem Maße mitgenommen, als die Gesammtheit der Muskelkraft, welche bei körperlicher Arbeit zur Verwendung kommt. Bei normal entwickelten Naturen wird daher eine tägliche geistige Arbeitszeit von acht bis zehn Stunden für den Erwachsenen als durchschnittliches Maximum gelten können. Es liegt auf der Hand, daß für das noch nicht entwickelte Gehirn des Kindes eine erhebliche Abminderung dieser Stundenzahl Platz greifen muß, wenn nicht eine Ueberanstrengung des Gehirns befürchtet werden soll. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß bei dem Durchschnitt unserer Schulkinder, wenigstens derer in den höheren Schulen, die geistige Thätigkeit die oben genannte Stundenzahl erreicht, oft sogar überschreitet. Bei fünf bis sechs Stunden täglichen Schulunterrichts muß man bei dem gegenwärtigen Modus mindestens noch zwei bis drei Stunden auf die Vorbereitung im Hause in Anschlag bringen. Demnach kann es, schon rein äußerlich betrachtet, nicht Wunder nehmen, wenn bei minder kräftigen Kindern Ueberreiztheit des Gehirns, in der wir sehr häufig auch die Veranlassung zu Krankheiten der Augen zu erkennen haben, eintritt.

  1. „Woran wir leiden“. Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule. Düsseldorf 1882.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_827.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)