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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Aufstände der Letten und Esthen, der „Undeutschen“, die nach jeder Erhebung um so tiefer in die Knechtschaft sanken, Kriegsstürme, verheerende Invasionen zu allen Zeiten und von allen Seiten her, von Litthauern, Polen, Schweden, Dänen und Moskowitern, Pest und Seuchen.

Wie auf den kurzen nordischen Sommer unerbittlich die Unholden, die Reifriesen Niflheims, folgen und oft über Nacht alles Leben zu Eis und Tod erstarren machen, so erhebt Jahrhunderte hindurch die Saat germanischer Cultur ihre Halme und Gräser in der Nordmark nur zu halber Höhe, um alsbald wieder von sengenden Horden der Nachbarvölker vernichtet und zertreten zu werden.

Mit 1710 erlischt endlich die Brandfackel blutiger Kriege. Unter russischem Scepter athmet das Land allgemach auf; das Blut pulst wieder in den Adern – doch noch lastet während der größeren Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine eisenharte Leibeigenschaft wie ein böser, erdrückender Alp auf dem kranken Organismus. Aber von der Wende des Jahrhunderts ab bis auf unsern Tag, zunächst langsam, dann in immer rascherem, stetigerem Tempo setzen die Enkel jener starren Ritter und Herren ihre besten Kräfte dafür ein, die alte Schuld zu sühnen, indem sie selbstisches Standesinteresse mit warmem Eintreten für das Wohl des Landes vertauschen. Durch Kirche, Schule und Landverkauf heben sie den gedrückten Bauernstand in immer reicherem materiellen und geistigen Aufschwung zu der respektablen Höhe, von der herab die Agrarfrage, die erste und bedeutendste des Landes, wenngleich nicht als abgeschlossen, so doch als in den wichtigsten und schwierigsten Punkten glücklich gelöst erscheint. Daran noch zu zweifeln bleibt denen überlassen, die aus nationaler Ränkesucht oder sonst unlauteren Motiven jenen „Rest, der noch geblieben“, zu einem baltischen Irland aufzubauschen bemüht sind.

Leider sind in allerletzter Zeit jene unlauteren Elemente in stetigem Wachsen begriffen, und so drängen sich noch zur Stunde von einander wesentlich verschiedene Culturmächte nachhaltig und zäh hervor, einander anfeindend und mit einander um die Herrschaft ringend.[1]

Wir wenden uns nunmehr zu Einzelbetrachtungen der Städte und Ortschaften der Ostseeprovinzen, und da ist es der Vorort baltischen Culturlebens, Riga, welcher zuerst unser Interesse in Anspruch nimmt: Riga der Bischofssitz, Riga die blühende Hansastadt, Riga die Centrale der Provinz. Die drei weit in’s Land und bis an die Mündung der Düna schauenden Thürme der Stadt können als Wahrzeichen dieser dreifachen Bedeutung gelten. Der Dom, dieses älteste von allen monumentalen Bauwerken der Stadt, nach Anlage und Bau-Art zugleich das imposanteste unter ihnen, zeugt noch heute in seiner räumlichen Ausdehnung, seinen Hallen und Kreuzgewölben für die Bedeutung jener bischöflichen Macht, die in der Gründung Rigas durch Albrecht von Buxhövden 1202 die Grundveste schuf für die bleibende Colonisation des Küstenlandes. Die Petri-Kirche mit dem schlanken, hochaufstrebenden Thurme, in welcher zuerst und mit nachhaltiger Wucht die Lehren der Reformation ertönten, gleicht einem Siegesdenkmal des Protestantismus, welcher, abgesehen von einer kurzen Gegenreformation in polnischer Zeit, bleibend das Land eroberte. Endlich die Jacobi-Kirche, gegenüber dem Ritterhause, unweit des Schlosses, noch heute die Kirche der Beamten, des Landadels, in der die feierliche Kanzelrede des Generalsuperintendenten vor Eröffnung des Landtages den Segen des Himmels erbittet für die Berathungen und Beschlüsse der versammelten „Ritter und Landschaft“; sie bildet gleichsam ein Symbol der durch die Selbstverwaltung aufblühenden Macht des Landes.

Außer diesen drei bedeutsamen Baudenkmälern der Vorzeit ist die Auslese klein. Der Pulverthurm, heute nur noch ein monumentaler historischer Schmuck, und das Haus der „Schwarzen Häupter“ am alten Marktplatze ragen als Reste frühester Zeiten charakteristisch aus der Masse der stillosen Bauten des älteren Riga hervor. Erwähnenswerth ist auch das alte Schloß, früher Residenz der Großmeister in Livland, jetzt Sitz des Generalgouverneurs. Was die engere Stadt sonst an bemerkenswerthen Gebäuden aufweist – die Zahl derselben ist nicht gering – gehört der neueren Zeit an, so die im gothischen Stile erbaute anglikanische Kirche, die Häuser der großen und kleinen Gilde, die Börse im Geschmacke der Frührenaissance und das Ritterhaus im florentinischen Palaststile.

Zwischen Stadt und Vorstädten, auf dem Boden der früheren Wälle und Festungsglacis ist in dem letzten Vierteljahrhundert Neu-Riga erstanden. Von dem Basteiberge aus, diesem letzten Ueberbleibsel des niedergelegten Festungsgürtels, übersieht man die stolzen Reihen geschmackvoller, stilvoller Privathäuser, die mit dem Theater, dem Polytechnikum, der Gasanstalt, dem Realgymnasium und anderen stattlichen, dem Gemeinwesen dienstbaren Bauten, durchzogen von dem malerischen Grün parkartiger Anlagen, eine Stadt für sich zu bilden scheinen. Sie reden laut von dem mächtigen Aufschwunge, den Riga genommen, seit die Wälle fielen: sie lassen es begreifen, wie die Einwohnerzahl von 70,000 in circa dreißig Jahren auf rund 170,000 anwachsen konnte. Gleichwohl hat man der hohen Ziffer gegenüber bezüglich des öffentlichen und geistigen Lebens seine Anforderungen und Erwartungen auf ein bescheidenes Maß herabzustimmen. Ein unverhältnißmäßig großer Bruchtheil zählt hier nicht mit, wo es gilt, für geistige Interessen, für Fragen der Kunst und der Wissenschaft ein Publicum zu finden. Ja selbst das bescheidenere Niveau der Durchschnittsbildung des Kleinbürgers wird hier in der zahlreichen russischen und lettischen Bevölkerung wohl nur von einem geringen Procentsatz erreicht. Man findet in jenen außerdeutschen Bevölkerungsgruppen meistens im specifisch russischen und lettischen Vereinsleben volles Genüge und steht allem sonst Gebotenen kühl, wo nicht gar oppositionell gegenüber.

Charakteristisch ist überdies die Vorliebe der bessern Gesellschaft Rigas für lebhaften Verkehr in Familienkreisen, ja eine gewisse Scheu vor dem Besuch öffentlicher Vergnügungslocale überhaupt, und zum Theil wohl hieraus resultirend das überaus rege Vereinsleben, das, theils dilettantisch-künstlerische, theils gesellige Unterhaltung, theils humanitäre Zwecke fördernd, allabendlich den Vereinsgenossen gastfrei Thür und Thor offen hält. In Familie und Vereinen pflegt man vor Allem die Musik; dagegen gelingt es oft selbst Künstlern bedeutenden Ranges nicht, vor gefülltem Saal aufzutreten, und regelmäßig wiederkehrende Symphonie-Abende haben sich noch immer nicht als ein Bedürfniß für die Gesellschaft Rigas herausstellen wollen.

Bei alledem zeigt die Kunstliebe, wo sie einmal über den Dilettanteneifer hinausgeht, eine Intensität, die betont werden muß. Kaum irgendwo ist das Theater – freilich das einzige am Ort – so ausgesprochener Liebling des Publicums wie in Riga. Nicht bittrer konnte darum letzteres betroffen werden, als durch den Brand des Kunsttempels im vorigen Sommer.

Nicht unerwähnt will ich lassen, daß das musikliebende Publicum Rigas am Vorabende eines Ereignisses steht, welches dasselbe mit Recht als ein hocherfreuliches und bedeutsames feiert: Demnächst soll in der Domkirche an Stelle der früheren eine Riesenorgel prangen, die, von vorzüglichster Construction, zugleich wohl die größte der Welt sein wird, da sie, wie verlautet, selbst der hochberühmten Freiburger Orgelschwester noch um einige Register „über“ ist.

Für andere Künste steht der Sinn – unter dem Gefrierpunkt. Insbesondere gilt von der Malerei im Großen und Ganzen noch heute, was jener Beobachter livländischer Sitten und Bräuche vor langen Jahren meinen durfte: es stehe schlimm um die Kunst in einem Lande, in dem man den „Maler“ meistens mit dem Anstreicher verwechsele.

Kommen so die Musen nur gerade auf ihr tägliches Brod, so weist das communale Leben einen ungleich reicheren Haushalt auf. Die bedeutsame Rolle, die Riga in der Geschichte des Landes gespielt, und ihre selbstständige, in sich geschlossene Entwickelung – sie haben in langjähriger Schule ständischen Selfgovernments ein Bürgerthum großgezogen, das sich thurmhoch erhebt über das Niveau gleichartiger Elemente in der Provinz, im benachbarten Polen und im weiten russischen Reiche. Von Alters her und zu allen Zeiten hat sich Riga hervorgethan durch reges Interesse für das Gemeinwohl, durch einen gefesteten gesunden Bürgersinn. Ihm dankt das Gemeinwesen die Stiftungen und Anstalten, deren Zahl Legion ist, ihm die Wittwen- und Waisenasyle, die Menge öffentlicher Bildungs- und Erziehungsstätten – und noch letzthin, beim Zusammenbruch der alten Verfassung und Einführung der neuen Städte-Ordnung nach Muster der in Rußland geltenden Normen, hat dieser Bürgersinn sich glänzend bewährt


  1. Wem es darum zu thun ist, tieferen Einblick in die ethnographischen und socialen Zustände des Landes zu gewinnen, den verweisen wir auf: „Die baltischen Provinzen Rußlands von Julius Eckart“. (Leipzig, Duncker und Humblot 1868.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_831.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2023)