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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

und inmitten der Katastrophe das Steuer in fester Hand gehalten, sodaß, statt eines Niederganges oder doch einer zeitweilig unheilvollen Verwirrung, die man für den Verwaltungsapparat befürchtete, dieser vielmehr mit neuer Mannschaft, neuen Mitteln ausgestattet gleichen Zwecken und Zielen dienstbar, geblieben ist wie früher und für segensreiche Förderung des Gemeinwohls nur immer reichern Impuls findet.

Wie Handel und Gewerbe Tag um Tag durch die engen Straßen wogt und lärmt, so hämmert hinter Thür und Wänden stetig und beharrlich das Räderwerk ausdauernder Berufsarbeit, aufopfernder communaler Thätigkeit durch Herbst und Winter und Frühling fort bis zu jenen gesegneten Tagen, da die beliebten „sauren Gurken“ ihr mildes Regiment antreten. Kaum irgendwo aber wird wohl die Sommererholung so heilig gehalten wie hier. Als ein Attentat auf sein innerstes Seelenleben sieht es Jeder an, verlangt man im Sommer mehr von ihm. als daß er zu seinem Theile die Staatsmaschine nur gerade nothdürftig in Gang hält, damit sie bis zu jenem langen Winterbetrieb nicht völlig einroste. Nicht nur von den Lasten des Berufes, auch von Geselligkeit und Vergnügungen nimmt man bei Beginn des Sommers Abschied – man hat, wenn die Mittel es irgend erlauben, nur Sinn für das dolce far niente auf der Villa, vornehmlich am Rigaschen Strande, in den Badeorten Dubbeln, Majorenhof, Bilderlingshof etc., die sich meilenlang an dem hügeligen, bewaldeten Meeresufer hinziehen und in unzähligen, mitten im Kiefernwalde gelegenen „Höfchen“, theils eleganten Villen, theils bescheidenen Miethwohnungen, gegen 40,000 geplagten Städtern, Rigensern und Provinzlern, ein trauliches Sommerheim gewähren. Den Uebergang zu dem „freien Leben, das wir führen“, bildet das Frühlingstreiben im Kaiserlichen Garten, vor Allem in dem mitten zwischen Stadt und Vorstädten belegenen „Wöhrmann’schen Park“. Allabendlich ist hier der Sammelplatz von Hunderten, ja von Tausenden, die sich nach frischer Luft und freier Bewegung sehnen und sich, so gut es geht, mit endlosem Gedränge und unerträglichem Staube abfinden.

Kunterbunt mischt sich das Publicum aus allen Nationalitäten, aus allen Berufs- und Altersclassen. Bei einem Rundgang kann es passiren und passirt nicht selten, daß man Conversationen in acht Sprachen mit anhört: Deutsch, Jüdisch-deutsch, Russisch, Polnisch, Lettisch und Esthnisch, daneben Englisch und Französisch. An drei Abenden in den Spätsommermonaten wird hier der „Hungerkummer“ gefeiert, ein specifisch rigisches Erinnerungsfest an vor grauen Zeiten glücklich überstandene Belagerungs- und Hungersnoth, das sich jedoch durch nichts Charakteristisches auszeichnet. Militärmusik, illuminirter Garten und ein unentwirrbarer Menschenknäuel, mit obstgefüllten Taschen, bilden die ganze Ausstattung des Festes.

Für die entlegenen Theile der Vorstädte respective deren Bewohner sind diese Festtage die regelmäßig wiederkehrenden Rendezvous, an denen sich gute Bekannte alle Jahr einmal wiedersehen. Die Arbeiterbevölkerung waltet in großer Menge vor – von den Holmen, den kleinen in der Düna gelegenen Inseln, wie aus der entfernt gelegenen Moskauer Vorstadt strömen oft wunderliche Gestalten zusammen, die sich sonst nur in den entlegensten Winkeln Rigas auffinden lassen.

Die ausgedehnte Moskauer Vorstadt gewährt überhaupt ein eigenartiges Bild, Vom übrigen Riga räumlich getrennt, erweckt sie in uns die Vorstellung, wir befänden uns in einer mittelgroßen russischen Provinzialstadt, die zufällig die Düna hinabgeschwommen und vor Rigas Mauern haften geblieben. Ueberall erblickt man hier kleine, in bunten Farben gestrichene Holzbauten, von denen jedes dritte oder vierte eine Schenke beherbergt.

Hier finden wir die Siedelungen jener zu der Raskolsecte gehörigen Flüchtlinge, die in den ersten Decennien des Jahrhunderts vor den Verfolgungen im Reiche in Riga ein erwünschtes Asyl fanden: hier halten in überfüllten Schenken und Spelunken alljährlich, sobald die Frühlingswasser stromabwärts treiben, die Strusenschiffer Einkehr, die auf ihren ursprünglichen Fahrzeugen, welche riesenhaften Butten nicht unähnlich sind, an der Dünafloßbrücke ankern, um, nachdem sie ihre Kornschätze vergeben, zu Schaaren in die Waggons dritter Classe gepfercht, den Heimweg anzutreten. Die Dünabrücke, stromaufwärts mit zahllosen Strusen, stromabwärts mit Dreimastern und Schraubendampfern aus aller Herren Ländern umsäumt, gewährt den eigenartigen Anblick grellster Contraste, wie denn in Summa das Leben und Treiben auf dem mächtigen Dünastrome, im Sommer wie im Winter, der nordischen Handelsstadt das charakteristischste Gepräge verleiht: im Winter die Menge flüchtiger Schlitten, die Eisbahnen, auf denen die Stuhlschlitten hin- und herschwirren – im Sommer das belebte Hafenbild. Die meisten Schiffe löschen und laden an den neu ausgebauten, ausgedehnten Kais bei Riga oder in dem zu diesem Zwecke angelegten Vorhafen bei Mühlgraben, etwa auf halbem Wege zwischen Riga und Dünamünde. Und indem wir an den Kais auf- und abwandern, steigt dort die Rauchsäule des Dampfers „Fellin“ auf, der uns zu einer flüchtigen Tour einladet. Wir sagen Riga Valet, und durcheilen im Fluge die kleinen Städte Livlands.

Zunächst erreichen wir Pernau, die an der gleichnamigen Bucht gelegene Handelsstadt mit 13,000 Einwohnern, kaufmännischen Kreisen durch den Export von Flachs und Leinsaat wohlbekannt. Pernau weist mehrere altbewährte Handelsfirmen auf, deren Chefs neben solider Geschäftsführung auch hanseatischem Wohlleben ein respectables Conto frei halten. Die unscheinbare freundliche Stadt hat sich bislang das Gepräge behaglicher Wohlhabenheit bewahrt: ihre Tage dürften indeß gezählt sein, wenn der langersehnte Schienenstrang, der das Hinterland Fellin und in weiterer Folge über Pleskau das russische Kornland mit der Hafenstadt verbinden soll, noch für die nächsten Jahre hinaus nur ein frommer Wunsch bleibt. Das ganze Land krankt an der Unterbindung der modernen Verkehrsadern, die, Esthland und Curland durchströmend, im Norden nach Reval und Baltischport, im Süden nach Riga und Libau ausmünden, das dazwischen liegende Livland aber unberührt lassen.

Fellin im Norden Livlands, an dem Hügelufer eines hübschen Landsees gelegen, mit den malerischen Ruinen des alten Heermeisterlichen Schlosses, und Wenden in Südlivland, gleichfalls durch seine reizende Lage, seine Burgruinen zu den anmuthigsten Städtebildern zählend, erfreuen sich seit Jahrzehnten des besten Rufes als beliebte und bewährte Erziehungsstätten der Landesjugend. Im Laufe der letzten Jahre sind, hier wie dort, die renommirten Privatanstalten durch Landesgymnasien ersetzt worden, die zum allergrößten Theil aus Mitteln des Landadels erhalten werden und alljährlich ein ansehnliches Contingent ihrer Zöglinge zur Hochschule nach Dorpat entsenden.

Klein-Wolmar, am Ufer der livländischen Aa gelegen, und das regen Binnenhandel treibende Walk sind durch ihre Lage im Herzen der Provinz dazu ausersehen, alljährlich abwechselnd den Sammelort für die Synoden abzugeben, zu denen sich die lutherischen Geistlichen des Landes nahezu vollzählig einzufinden pflegen.

Erwähnen wir noch des Städtchens Lemsal, zehn Meilen von Riga, und des durch den souverainen Willen der Kaiserin Katharina erstandenen Werro, so haben wir die Reihe der kleinen Städte Livlands erschöpft, die, dünngesäet, auf einem Territorium zerstreut liegen, das an Ausdehnung größer ist als die gesammte Schweiz und dreimal so groß wie das volkreiche Königreich Sachsen.

Wir wenden uns nun der nächst Riga größten Stadt des Landes zu, die an Bedeutung in gewissem Sinne noch die Centrale der Provinz überstrahlt: der 30,000 Einwohner zählenden Universitätsstadt Dorpat. Die hier blühende deutsche Hochschule zählt nicht zu Livland allein: sie gehört den baltischen Landen gemeinsam an. Mehr, als das sonst wohl der Fall zu sein pflegt, gebührt gerade ihr, als der Pflanzstätte allen geistigen Lebens in Livland, Esthland und Curland, der Name einer Landesuniversität: denn was in den Provinzen an Pastoren, Aerzten, Beamten, Richtern und Advocaten wirksam ist – fast ausnahmslos haben diese Männer sich ihre wissenschaftliche Bildung von der „alma mater Dorpatensis“ geholt.

Wir stehen am Ende unserer Betrachtung. Viel erübrigt noch von dem Leben, den Verhältnissen des „flachen Landes“ zu sagen, doch läßt sich nicht einmal eine nur flüchtige Umschau hierüber in den engen Rahmen dieser Skizze zwängen. Nur soviel sei hier bemerkt:

Livland, zur Hälfte getheilt in eine esthnische und lettische ackerbautreibende Landbevölkerung, erfreut sich von Jahr zu Jahr zunehmenden Wohlstandes. Die Scholle ist zur größeren Hälfte erbliches Eigenthum der Bauern, die seit der freisinnigen Landgemeinde-Ordnung vom Jahre 1866, unabhängig vom Landadel, in eigenen Gemeinden ihre communalen Angelegenheiten ordnen. Zur Zeit freilich gährt die jungesthnische und junglettische Bewegung verhängnißvoll und greift, von gewissenlosen Führern geschürt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_834.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2023)