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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

meist durch beides zugleich, Schiffbruch gelitten haben. Bei unserer Brüderschaft der „fahrenden Leute“ jedoch sind nicht nur alle civilisirten Nationen, sondern auch alle Stände, selbst die geachtetsten, in einem Maße vertreten, wie nirgendwo anders auf Erden. Zum Theil hat dies seinen Grund darin, daß uns Europa so gern seinen Ueberschuß an verfehlten Existenzen aller Art herüberschickt, die entweder gar nichts oder etwas, das ihnen hier nichts nützt, gelernt haben. Ferner gehen in Amerika Stellung, Reichthum und Ruf gerade so schnell, wie sie gewonnen worden, und viel, viel leichter verloren als in der alten Welt, und dieser Umstand trägt ebenfalls dazu bei, die Armee der Tramps zu recrutiren.

„Im Sommer das Land, im Winter die Stadt“ lautet die Parole unserer Ritter von der Straße. Sobald der erste Frost das bunte, in den wundervollsten Farben prangende Laub des Indianersommers bleicht und von den Bäumen schüttelt, ziehen sie an, diese Bassermann’schen Gestalten. Ich sehe sie immer wieder, die zerlumpten, schleichenden, schlotternden Menschen, die jeden Vorübergehenden mit prüfenden Blicken betrachten und abschätzen, ob es sich der Mühe lohnt, ihn anzusprechen. Der ehemalige Adjutant Kossuth’s mit den hohen Wasserstiefeln und dem uralten Calabreser muß wohl schon zu seinen Kriegscameraden in die Walhalla der Ewigkeit abcommandirt worden sein; denn seit Jahren vermisse ich ihn, und der stämmige Baron X., der einst als Gesandtschaftsattaché in den Salons der Exkaiserin Eugenie tanzte, hier aber längere Zeit hindurch des Morgens die übernächtigen Bierreste aus den geleerten Fässern schöpfte, die der Kneipwirth vor die Thür gesetzt hatte, und sich eine Brodkruste aus der Abfalltonne hervorzerrte, ist merkwürdiger Weise wieder ein anständiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden. Aber er ist wieder da, der „Gerichtsdirector“, mit dem qualmenden Nasenwärmer in dem runzligen, struppbärtigen Gesicht und der verschossenen, flachen Mütze auf dem Kahlkopf. Auch der blaubrillige Lump hat es nicht vergessen sich einzufinden, der mich immer anruft: „Sprechen Sie deutsch, mein Herr?“ und, da er nie eine Antwort erhält, stets fein: „Parlez-vous français, Monsieur?“ folgen läßt, dann jedoch, wenn man ihn auch bei dieser Frage unbeachtet läßt, wie ein Rohrsperling schimpft.

Der bekannte Wohlthätigkeitssinn und die Gutmüthigkeit der Amerikaner läßt auch diese socialen Schmarotzer nicht verhungern. Der „professional tramp“, der Vagabund von Beruf, weiß genau, wo er mit Erfolg anklopfen, wo er sich amüsiren und wo er ungestört schlafen kann. Barmherzige Vereine in der City sorgen für Asyle und warme Suppen, und als letzter Zufluchtsort winkt ihm die Polizeistation, die er jedoch nur im äußersten Nothfalle aufsucht. Es giebt in New-York eine Menge Herbergen, in denen er gegen Erlegung von fünf Cents ein Nachtquartier, sogar ein – Bett erhält; in den Tagesstunden geht er seinem „Geschäfte“ nach oder treibt sich müßig auf der Straße umher, und macht ihm schlechtes Wetter den Aufenthalt im Freien unbehaglich, so flüchtet er in das Lesezimmer des „Cooper Institute“ und liest oder schläft bei einer Zeitung ein, obwohl der hochehrwürdige Pater Cooper, der über neunzig Jahre zählende Patriarch unter den amerikanischen Philanthropen, diese seine großartige Stiftung keineswegs für die Bequemlichkeit der Strolche geschaffen hat.

Pittsburg, die „Smoky City“, die „Rauchstadt“, besitzt sogar ein „Home“, ein von den Bürgern gegründetes Obdach für die Landstreicher, das auch der „Gerichtsdirector“ – wenigstens giebt er sich für einen solchen aus – auf seiner Tour regelmäßig besucht. Richter zum Mindesten ist er in seiner transatlantischen Heimath gewesen und hat, wegen irgend welchen Vergehens seines Amtes entsetzt, die Thorheit begangen, als Mann in den Fünfzigern auszuwandern. Durch einen engen, von Schnaps, Kautabak und Schmutz duftenden Corridor schreitet er an ein kleines Bureau im „Home“, wo ein Mann durch ein sogenanntes „pigeon hole“, Taubenschlagloch, mit den Kunden verhandelt, welche ihr Nationale in ein großes Buch eintragen müssen und dafür eine Speisemarke empfangen. Zugleich wird den Leuten erklärt, daß sich die Gastfreundschaft des „Home“ für sie auf drei Tage ausdehne, dann aber müssen sie für Logis und Kost bezahlen. Die Anstalt scheidet sich nämlich in zwei Departements, in das „Hôtel“, welches nach den nämlichen Grundsätzen geführt wird wie ein Gasthof niederen Ranges, und in „Bummers Hall“, (Bummlerhalle), wo die Gentlemen von Habenichts diniren und nächtigen; letzteres wird von den Erträgnissen des ersteren unterhalten.

In dem großen mit Dampf geheizten, mit langen Tischen und Bänken ausgestatteten Saale findet unser Freund an vierhundert Collegen bereits versammelt. Jede Nation, jeder Stand, jeder Grad der Verkommenheit hat dort seine Vertreter. Arbeiter und Handwerker, die zeitweise brach liegen, gesellen sich zu gescheiterten Geistlichen, Professoren, Kaufleuten, Literaten, Künstlern, deutschen und österreichischen Garde-Officieren. Hierhin rettet sich auf drei Tage der bürgerliche und adlige Auswurf Europas, und mit ungläubigem Staunen würde man jenseits des Oceans zuhören, wenn man diese Fremdenliste vorläse. Doch ein ständiger Gast fehlt: er hat als Tramp die ganzen Vereinigten Staaten durchwandert und arbeitete zuletzt als Kohlenschaufler in einem Orte Pennsylvaniens. Da starb in diesem Sommer sein Onkel, und er ging nach England, dem Lande seiner Ahnen, zurück – als Earl von Effemere mit einem jährlichen Einkommen von 10,000 Pfund Sterling.

Das Diner, welches der bunt zusammengewürfelten Schaar von Strolchen servirt wird, besteht aus einem ebenso mosaikartigen Gericht, den im Hexenkessel der Proletariatsküche zu einem seltsamen Gebräu gemischten Speiseresten des „Hôtels“. Nach der Mahlzeit stellt man Bänke und Tische an die Wand, um Raum zum Schlafen zu schaffen, doch tritt vorher ein geistlicher Herr durch eine Seitenthür ein, vertheilt volksthümliche Lieder unter die Anwesenden und hält eine feierliche Andacht ab, ohne die der Abend so wenig denkbar wäre, wie Brod ohne Salz.

Wenn der Sommer einzieht, tritt die gesammte ungeheure Armee der amerikanischen Tramps ihre Wanderung aus den Winterquartieren an: sie kehrt dem „Pinch“ in Memphis, dem „Under the Hill“ in Natchez, dem „Elephant Johnnie’s“ in New Orleans und wie die unter der nomadisirenden Gilde berühmten Herbergen alle sonst heißen mögen, den Rücken. Vor diesen Wandervögeln breitet sich nun ein unermeßliches, an klimatischen, nationalen und socialen Mannigfaltigkeiten und Gegensätzen überaus reiches Gebiet als Tummelplatz aus, nach allen Richtungen von Eisenbahnen durchschnitten, welche die erwünschtesten Fahrgelegenheiten bieten: denn Fußtouren liebt der amerikanische Tramp nicht und bedient sich dieser Reisemethode nur, wenn er muß oder gerade Lust dazu hat. Auch versäumt er es nicht, sich die ihm unentbehrlichen „Kriegskarten“ zu beschaffen, das sind die Eisenbahnpläne, sowohl diejenigen für die Passagiere, wie die für das Beamtenpersonal; sie geben ihm genau an, wie die Züge laufen, wo sie halten und wo er am besten unentdeckt auf einen derselben springen kann. Der altgediente Vagabond hat neben seinem Spiel Karten, mit welchen er schon in allen Staaten und Territorien der Union das schöne Spiel „cut-throat old-sledge“ um einen Schluck Whisky aus der gemeinsamen Flasche gespielt hat, stets die Fahrpläne aller Bahnen in der Tasche.

Er verschmäht keinen Zug, der ihn in der eingeschlagenen Richtung weiter bringt, doch wählt er am liebsten einen leeren Güterwaggon, in welchem er sich so verbirgt, daß er der Aufmerksamkeit der Bahnbediensteten entgeht; denn diese sind streng angewiesen, mit den „blinden“ Passagieren kurzen Proceß zu machen. Manche Linien haben sogar ihren berufsmäßigen Hinauswerfer, der gewöhnlich zugleich Bremser ist und die Pflicht hat, die Tramps erforderlichen Falls mit Gewalt an die Luft zu setzen. Ist die Reise in einem solchen Waggon wegen der Wachsamkeit des Bahnpersonals nicht mögllch, so nimmt der Stromer auf den Verkuppelungen zwischen den Waggons Stellung. Das ist eine sehr gefährliche Position, die große Erfahrung und Vorsicht verlangt; denn gerade hier ist das Schütteln und Stoßen besonders fühlbar; ein Ausgleiten des Fußes, und Alles ist vorbei.

Dann erklärt das vom amtlichen Leichenbeschauer zusammenberufene Geschwornengericht: der Mann sei ein Tramp gewesen und durch Ueberfahren um’s Leben gekommen. Wer er war, das weiß Niemand: vielleicht führte er einst seine Compagnie durch Kampf zum Siege, oder herrschte über ein Heer von Buchhaltern, oder entzückte die vornehme Welt durch seine chevalereske Liebenswürdigkeit. Wer vermöchte es zu sagen? Er hat nichts an sich, was zu seiner Identificirung führen könnte.

Auch der „Gerichtsdirector“ hat sich wiederum dieser Völkerwanderung angeschlossen. Sein unzertrennlicher Begleiter ist der „Evangelist“, ein um zehn Jahre jüngerer, heruntergekommener amerikanischer Geistlicher. Der geneigte Leser wundert sich vielleicht darüber, wie es für einen „Mann Gottes“ möglich ist, so tief zu sinken, und doch ist das so auffallend nicht. Bei uns

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verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_019.jpg&oldid=- (Version vom 3.1.2023)