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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

und die Bedeutung des Ceremoniells sind ihm unbekannt, und jene geistlichen Uebungen erscheinen ihm daher widersinnig, lächerlich, oft schauerlich oder geradezu widerwärtig. Selbst diejenigen Orientreisenden, welche zu Anderer Nutz und Frommen ihre Beobachtungen aufzeichneten und veröffentlichten (wie Gautier, Hackländer, Pietsch, Wanberg etc.), haben sich meistens begnügt, in sehr grellen, stark aufgetragenen Farben und fast immer in humoristischem Ton die seltsame Außenseite des islamitischen Cultus zu schildern. Ihre Darstellungen lassen ein Eingehen auf die symbolische Bedeutung der Ceremonien durchaus vermissen.

So kommt es, daß der Fremde, dem zu selbstständigen Studien Zeit, Gelegenheit, namentlich aber die Hülfsmittel fehlen, nicht selten ein völlig verzeichnetes Bild von dem Wesen und der Bedeutung des heutigen Derwischthums mit nach Hause nimmt, ja daß schon der Ankömmling, wenn er, mit dem ersten besten Reiseführer ausgerüstet, den orientalischen Boden betritt, eine unrichtige oder doch unklare Vorstellung darüber mitbringt.

Die nachstehenden Notizen mögen denn als ein Versuch angesehen werden, jene humoristischen, übrigens sehr lebendigen Schilderungen früherer Beobachter nach der culturgeschichtlichen Seite hin zu ergänzen. Sie mögen dazu dienen, einer in weiteren Kreisen verbreiteten irrigen Auffassung zu begegnen, welche in dem orientalischen Derwischthum die islamitische Form des katholischen Mönchswesens erblicken will. Diese Auffassung trifft keineswegs das Richtige, so sehr auch manche den beiden Instituten gemeinsame Einrichtungen, wie das Zusammenleben in Klöstern, die geistlichen Uebungen, die Ordenstracht etc., zu einem solchen Vergleich auffordern mögen.

Ebenso unrichtig ist es, von jenen dem Europäer so anstößigen äußeren Gebräuchen einzelner Orden sofort auf einen niederen Bildungsgrad, auf blinden Aberglauben und stumpfen Fanatismus ihrer Mitglieder zu schließen. Mancher Fremde, der mit Achselzucken und spöttischem Lächeln das Teké der „drehenden Derwische“ verläßt, würde erstaunen, wüßte er nur, daß mancher General, Gouverneur, Minister und Botschafter – Mitglied dieses Ordens ist.

Schon hieraus ergiebt sich, daß die Derwischorden mehr den Charakter von Freigemeinden tragen. Ihre ursprünglich scharf abgegrenzte, auf dogmatischen Sätzen beruhende Lehre hat sich sogar im Laufe der Jahrhunderte zu einer Art schwärmerischen Freimaurerthums verflüchtigt und ist neuerdings mehr Trägerin eines politischen Princips als einer religiösen Anschauung.

Ursprünglich vertrat das Derwischthum im Islam die freigeisterische Richtung. Es stand – und steht in den meisten Punkten noch heute – in schroffem Gegensatz zur orthodoxen Lehre, und der Derwisch ist der geschworene Feind des mohamedanischen Clerikers, des Ulema. Das schließt aber bei ihm den Fanatismus gegen den „Ungläubigen“ keineswegs aus. Im Gegentheil! Die politische Bedeutung des Derwischthums beruht gerade auf dem tiefeingewurzelten Haß gegen Rajahs[1] und Franken, auf dem systematischen Sichabschließen gegen alle abendländische Cultur und auf dem energischen Widerstand gegen alle und jede Reform des Staatswesens. Die Regierung weiß das sehr wohl. Sie unterschätzt durchaus nicht den Einfluß, den die Vertheidiger solcher Grundsätze auf die starke alttürkische Partei, namentlich aber auf die niederen bigotten Volksclassen, ausüben, und erkennt mit Recht in dem Derwischthum einen Factor, mit dem sie bei jedem Reformproject zu rechnen hat.

Jenes wunderliche Gemisch von Freidenkerthum und Fanatismus wird nur durch einen Rückblick auf die geschichtliche Entwickelung des orientalischen Sectenwesens erklärlich, der hier natürlich nur in gedrängter Form geboten werden kann:

Seiner heutigen äußeren Gestaltung nach stammt das türkische Derwischthum aus Persien. Seine Lehre aber deckt sich mit dem im Morgenlande weit verbreiteten Sufismus, nach welchem Alles in der Welt von Gott stammt und zur Wiedervereinigung mit demselben zurückstrebt, und ist weit älter als der Islam selbst.

Hervorgegangen aus den buddhistischen Ideen Indiens trat der Sufismus fast gleichzeitig an den entgegengesetzten Grenzen des Khalifats, in Persien und in Aegypten, auf. In Aegypten und bald darauf im nahen Arabien entwickelte er sich, namentlich unter dem Einflusse des eben erstarkenden Christenthums, zu jenem der Welt entsagenden Einsiedlerthum, welches die Wiege christlichen Mönchs- und Klausnerwesens wurde. Strengste Bußübung, düstere Weltentsagung, gänzliche Abtödtung der Sinne waren die ersten rohen Grundlagen dieser Lehre. Allmählich mischten sich derselben dann später mystische Elemente bei, und nun schwebte der Zustand des Gläubigen beständig zwischen schwärmerischer Verzückung und empfindungsloser Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt, die nicht selten in thierische Stumpfheit überging.

Wie Bremer berichtet, gab es schon im sechsten Jahrhundert nach Christo auf dem Berge Athos eine christliche Mönchsgemeinschaft, deren Mitglieder, Tag für Tag in dunkler Zelle eingeschlossen, den Kopf auf die Brust gesenkt, ihren Blick unverwandt auf die Nabelgegend richteten. Dadurch geriethen sie zuerst in einen betäubten, nach und nach aber in einen verzückten Zustand, in welchem sie ein Licht um den Nabel erblickten, „dessen Schauen sie mit unaussprechlicher Seligkeit erfüllte und das sie für einen unmittelbaren Ausfluß der Gottheit erklärten“.

Wenn griechische Mönche bereits solche Resultate erzielten, wie viel stärker mußten solche asketische Uebungen auf das leicht erregbare nervöse Temperament und die lebhafte Phantasie des Arabers wirken, den schon die Abgeschiedenheit des Wüstenlebens, die dürftige Nahrung und die langen Nachtwachen ohnehin für Aberglauben und seelische Verzückungen besonders empfindlich machen!

Die Zahl der Illuminaten (Hellsehenden) wuchs denn auch in gewaltigen Verhältnissen. Sie durchziehen das Land als Bettelmönche oder hausen als Eremiten in den Felsenklüften der kleinasiatischen Küste, und wie in Europa der Berg Athos zum classischen Boden griechischen Mönchswesens wird, so sind bald am jenseitigen Ufer die Abhänge des Olymp mit den Einsiedeleien sufischer Einsiedler bedeckt. Das neue Religionssystem Mohammed’s ward der Secte nicht gefährlich; es sog dieselbe gewissermaßen auf. Als harmlose phantastische Schwärmer, als Prediger einer strengen Moral durften die Sufys auch ferner ihren absonderlichen Gebräuchen nachgehen. Ja, manche ihrer Ideen gingen schon damals unmerklich auf den Islam über.

Anders entwickelte sich der Sufismus in Persien. Dem Charakter des indogermanischen Volksstammes sagte mehr die weltgottgläubige Seite der neuen Lehre zu. Von ganz besonderem Einflusse aber war dabei das Bekanntwerden der Schriften griechischer Philosophen, von denen gerade um diese Zeit die ersten Uebersetzungen nach dem Oriente drangen. Die Sufys, als Vorkämpfer der freieren Richtung, versenkten sich ganz in das Studium der classischen Naturphilosophie; ihr Streben galt nichts Geringerem als einer Ausgleichung der wissenschaftlichen Forschung mit den religiösen Satzungen, einer Vermittelung neuplatonischer Ideen mit dem Dogma des unaufhaltsam um sich greifenden Islam. Aber trotz der Abneigung der Perser gegen die neue Religion wurde die Absicht der Sufys, dieselbe ganz nach ihren Principien umzuformen, nicht erreicht. Die willkürliche Behandlung des Korans und der Tradition verletzte die Gläubigen und führte zum offenen Bruche zwischen Philosophie und Dogmatik. Andererseits reichten die Kenntnisse Derer, welche der freien Forschung zulieb den Boden des naiven Glaubens verlassen hatten, zum gedankenmäßigen Aufbau eines neuen Systems nicht aus.

Allein unter der Einwirkung dieser Bestrebungen mußte der dem Sufismus ursprünglich innewohnende asketische Grundzug fast gänzlich verloren gehen. Der Name „Derwisch“, welchen die persischen Sufys angenommen hatten, bezeichnete zwar gleich dem arabischen „Fakir“ (arm) einen Bettler (der Thier, wisch liegend); allein das Gelübde freiwilliger Armuth und Weltentsagung war bald nur noch eine leere Formel.

Waren die Principien des Sufismus auch früher schon von einzelnen Secten und Geheimbünden aufgestellt, so lebten die Bekenner dieser Lehre doch nur in äußerlich losem Verbande. Eigentliche Orden bestanden bis dahin nicht. Die Gründung der ersten auch nach außen hin durch Tracht, Ritus und Lebensweise sich abschließenden Gemeinschaften fällt erst in die Mitte des zwölften Jahrhunderts nach Christo. Die meisten noch heute bestehenden sind im dreizehnten Jahrhundert gestiftet worden.

Diese Entstehung religiöser Orden, – so sehr sie auch mit dem ausdrücklichen Befehl Mohammed’s: „Im Islam giebt es kein Mönchthum“ im Widerspruch stand, – war doch die nothwendige Folge der nun schon Jahrhunderte lang im Schooß des Islam gepflegten sufischen Ideen. Unter dem unmerklichen Einflusse

  1. Rajahs (arabisch raijah, weidendes Vieh) bedeutet zinspflichtige Unterthanen, die sich nicht zur mohamedanischen Religion bekennen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_026.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2023)