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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


„Ich weiß nicht, was Du gehört haben magst, Onkel Raimund, aber ich versichere Dir –“

„Ich mache Dir ja keine Vorwürfe,“ unterbrach ihn Raimund. „Du bist jung, lebensfroh und fremdem Einfluß sehr zugänglich. Da geräth man leicht in den Strudel, aber nicht Jeder hat die Kraft, sich mit eigener Hand wieder daraus empor zu arbeiten, und Du hast sie vollends nicht, deshalb mußte ich die meinige herleihen. Es wäre doch schade, Paul, wenn Du mit vierundzwanzig Jahren schon in diesem Strudel zu Grunde gingest.“

Der junge Mann sah zu Boden, während die Röthe in seinem Gesicht noch tiefer wurde. Es waren nicht die Worte, welche ihn verletzten; es lag ja kaum ein Vorwurf darin, und er war sich bewußt, noch ganz andere Vorwürfe verdient zu haben, aber die kühle Ruhe und Theilnahmlosigkeit, mit der das alles ausgesprochen wurde, kränkte und reizte ihn zugleich. Er hatte die Empfindung, als ob es dem Onkel in Wirklichkeit ziemlich gleichgültig sei, ob sein junger Verwandter zu Grunde gehe oder nicht. Er erfüllte mit seinem Einschreiten nur eine Pflicht, welche ihm offenbar sehr lästig war; ein Interesse an der Sache selbst nahm er durchaus nicht.

„Du hast Recht,“ sagte Paul endlich mit einer Selbstüberwindung, die ihm schwer genug wurde. „Ich bin leichtsinnig gewesen und undankbar gegen Dich, dem ich so Vieles danke, aber Du darfst es mir glauben“ – hier schlug er die blauen Augen voll und offen zu dem Freiherrn auf – „ich habe das oft genug selbst gefühlt und mehr als einmal versucht, mich loszureißen, aber –“

„Deine sogenannten Freunde haben das nicht zugegeben,“ ergänzte Werdenfels. „Ich weiß es. Da war vor Allem ein gewisser Bernardo, der Dich zu all den Thorheiten verleitet hat.“

„Also auch das weißt Du?“ rief Paul auf’s Höchste betroffen. „Ich ahnte nicht, daß Du so genau über meine dortigen Bekanntschaften orientirt bist.“

Der Freiherr ließ die letzte Bemerkung unerörtert; er fuhr mit derselben kühlen Gelassenheit fort:

„Es war nothwendig, Dich aus diesen Umgebungen zu entfernen; deshalb rief ich Dich zurück. Ich hoffe und erwarte, daß jene Beziehungen nicht wieder aufgenommen werden; aber um Dich ganz davon zu lösen, müssen Deine Angelegenheiten vollständig geregelt werden. Du hast dort Verpflichtungen hinterlassen?“

„Ja,“ sagte der junge Mann leise.

Jetzt kam die gefürchtete Beichte; er hatte sie sich doch nicht so schwer und peinlich gedacht, und er wußte, daß die Gelassenheit des Onkels nicht Stand halten werde, wenn er die Summe erfuhr, um die es sich handelte. Der Freiherr zeigte jedoch gar keine Neugier in dieser Hinsicht.

„Wende Dich an meinen Rechtsanwalt, den Justizrath Freising, durch den Du bisher Deine Geldsendungen bezogst! Ich werde ihm die Weisung zugehen lassen, die Sache sofort zu erledigen. Er wohnt nur zwei Stunden von hier in M.; Du kannst also alles Nöthige mit ihm persönlich besprechen.“

„Wie Du befiehlst,“ sagte Paul zögernd, „aber die Summe ist bedeutend, sehr bedeutend sogar; ich –“

„Nenne sie dem Justizrath!“ unterbrach ihn der Freiherr abwehrend. „Zwischen uns Beiden braucht das nicht weiter erörtert zu werden. Ich fordere nur Dein Ehrenwort, daß Du in dieser Beziehung offen bist, damit jene Verpflichtungen ganz und voll gelöst werden. Alles Uebrige wird Freising besorgen.“

Paul stand wortlos da und wußte nicht, ob er sich erleichtert oder bedrückt fühlen sollte. Er hatte diese Auseinandersetzung sehr gefürchtet, und nun ging sie ohne jede Scene vorüber. Der Onkel fragte nicht einmal nach dem Betrag jener Summe, die immerhin ein kleines Vermögen repräsentirte; er gewährte, ohne auch nur einen Tadel auszusprechen; aber die kalte, halb verächtliche Art, in der dies geschah, beschämte den jungen Mann auf das Tiefste. Er hätte lieber Tadel und Vorwürfe hingenommen, als eine derartige Verzeihung, und das warme Dankeswort, das er so gern ausgesprochen hätte, wollte nicht über seine Lippen.

„Ich danke Dir,“ sagte er endlich etwas gezwungen. „Ich glaubte nicht, daß Du die Sache so aufnehmen würdest, aber ich werde mich bemühen, Deine Güte besser zu verdienen, als bisher.“

Das Auge des Freiherrn ruhte prüfend auf den Zügen seines jungen Verwandten, aber es lag kein Interesse in diesem Blick.

„Das wird mich freuen, um Deinetwillen. Und nun kein Wort mehr von der Angelegenheit! Sie ist besprochen und erledigt; übergeben wir sie der Vergessenheit! – Ich hoffe, daß Du mit Deinen Zimmern zufrieden bist. Du hast Deinen eigenen Diener mitgebracht?“

„Ja, den alten Arnold, der mich stets begleitet.“

„Er ist ja wohl schon lange in den Diensten Deiner Familie?“

„Schon seit länger als vierzig Jahren. Ich habe ihn von meinen Eltern übernommen.“

„Und Du bist vermutlich sehr vertraut mit ihm?“

„Allerdings,“ entgegnete Paul, mit geheimer Verwunderung, daß der sonst so gleichgültige Onkel sich so eingehend nach einem alten Diener erkundigte, der ihm gänzlich unbekannt war. „Arnold hat mich von meiner frühesten Kindheit an unter seiner ausschließlichen Obhut gehabt und, wie er stets behauptet, ‚erzogen‘. Wir sind zwar fortwährend im Kriegszustande; denn er nimmt sich bei jeder Gelegenheit heraus, den Hofmeister zu spielen, aber ich weiß doch, daß er mit Leib und Seele an mir hängt, und ich selbst kann ihn und seine ewigen Predigten gar nicht mehr entbehren.“

„Man muß diesen alten Dienern manche Eingriffe hingehen lassen,“ sagte Werdenfels. „Sie betrachten sich als zur Familie gehörig und haben gewissermaßen ein Recht dazu. Behalte immerhin Deinen Arnold.“

„Interessirst Du Dich für ihn?“ fragte Paul, dem eine gewisse Beziehung in diesen Worten zu liegen schien. „Er würde sehr glücklich sein, wenn es ihm erlaubt würde, sich Dir vorzustellen; Onkel Raimund.“

Der Freiherr machte eine abwehrende Bewegung.

„Nein, ich sehe nicht gern fremde Gesichter um mich. Aber noch Eins, Paul! Laß den ‚Onkel‘ aus unseren Gesprächen weg! Dein Vater und ich waren allerdings Vettern, der Altersunterschied zwischen Dir und mir ist aber nicht so groß, um diesen Titel zu rechtfertigen. Ich habe nur zehn Jahre vor Dir voraus. Nenne mich einfach Raimund!“

Paul blickte erstaunt auf seinen Onkel, der erst vierunddreißig Jahr alt sein sollte; er hatte ihn mindestens um zehn Jahre älter geschätzt. Die Züge des Freiherrn waren allerdings noch jugendlich, aber die tiefe Blässe dieser Züge und die noch tieferen Linien darin ließen den Irrthum verzeihlich erscheinen.

„Was nun Deinen nächsten Aufenthalt betrifft,“ fuhr Raimund fort, „so wirst Du vorläufig hier bleiben. Ich weiß, daß das nicht in Deinen Wünschen liegt, aber ich halte es doch für besser, Dich nicht sofort neuen Versuchungen auszusetzen, indem ich Dich nach der Residenz schicke. Du hast freie Disposition über die Ställe und kannst reiten und fahren, wohin es Dir beliebt; Du findest hier oben ein vorzügliches Terrain für die Jagd, und die Bibliothek des Schlosses steht ebenfalls zu Deiner Verfügung. Im Uebrigen mußt Du Dich mit der Einsamkeit und Langeweile von Felseneck abfinden, so gut Du es vermagst. Ich selbst werde Dich wenig sehen; denn ich liebe es nicht, mich in meinen Gewohnheiten stören zu lassen. Im Laufe des Winters wird sich ja wohl irgend eine Thätigkeit für Dich finden, die Dir in Zukunft einen festeren Halt im Leben giebt. Und nun leb’ wohl für heute!“

Im Laufe des Winters! Paul war so entsetzt über die Aussicht, den ganzen Winter hier zuzubringen, daß er zu antworten vergaß. Zwar stand es bei ihm fest, daß er auf keinen Fall in Felseneck bleiben werde, aber für den Augenblick war jede Opposition unmöglich. So ruhig die Worte auch klangen, sie enthielten doch einen ganz bestimmten Befehl, und nach der unbedingten Großmuth, die der Onkel ihm soeben gezeigt, konnte der junge Mann sich füglich nicht offen dessen Willen widersetzen. Er verneigte sich also und ging. Der Freiherr winkte ihm freundlich, gleichgültig mit der Hand und trat dann wieder auf den Altan hinaus, von wo er unverwandt zu der Geisterspitze hinaufblickte, die in ihrem leuchtenden Schneegewande in voller Klarheit dastand.




Es war in der That nicht zu viel gesagt, wenn man behauptete, daß der Burgherr von Felseneck das Märchen der ganzen Umgegend geworden. Je weniger er nach der Welt und den Menschen zu fragen schien, desto mehr fragten sie nach ihm, und die vollständige Zurückgezogenheit und Einsamkeit, in der er nun

schon seit Jahren lebte, gaben Anlaß zu den seltsamsten Gerüchten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_042.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)