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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Speisehäuser der lohnarbeitenden Classen zu werden, indem sie zu gewissen Stunden warme Speisen bereit halten würden. Innerhalb ihrer Locale hätte sie dauernd für Reinlichkeit und Ordnung aufzukommen; auf Borg oder gegen Pfand dürfte sie keine starken Getränke verabfolgen lassen.

Eine solche Gesellschaft forderte der Ausschuß aber nicht blos; er hielt sie für den Fall der Genehmigung seiner Vorschläge schon gleich bereit. Zwanzig der angesehensten Handelshäuser und Bürger erboten sich in einem Schreiben vom 7. April 1865 an den Magistrat, alle Schankberechtigungen zu übernehmen, welche sonst zur öffentlichen Versteigerung gelangen würden, die in der städtischen Branntweins-Ordnung dafür festgesetzten Mindestabgaben zu zahlen und den verbleibenden Reingewinn im Interesse der arbeitenden Classen gemeinnützig zu verwenden. Sie erhielten den Zuschlag und eröffneten ihr Geschäft am 1. October 1865. Einen Theil der Schänken ließen sie eingehen; die anderen statteten sie anständig aus und besetzten sie mit Wirthen, welche den Branntwein nur auf Rechnung der Gesellschaft unter Aufsicht eines Beamten derselben verabfolgten, dagegen Kaffee, ein dort „Drick“ genanntes schwaches Bier (ähnlich unserer Gose, Broihan, Weißbier u. dergl.), kohlensaures Wasser, Speisen aller Art, Zigarren etc. für ihre eigene Rechnung verkauften. Damit war den Schänken genommen, was sie namentlich bei großer Zahl und scharfer Concurrenz für viele ihrer Gäste so gefährlich macht, nämlich das Interesse des Wirthes am Vieltrinken.

Nach drei Jahren gab die Gesellschaft das Recht auf, über ihren Reingewinn nach eigenem Ermessen zum Wohle der arbeitenden Classen zu entscheiden, und wies denselben einfach der Communalcasse zu. Diese hatte davon sehr beträchtliche Einnahmen: 1866 zwar nur erst 53,946 Kronen (1 Krone gleich etwa 1,10 Mark unseres Geldes), 1868: 99,054 Kronen, aber 1872 schon 206,188 Kronen, und als 1874 sämmtliche Schankberechtigungen nebst dem ganzen Kleinverkauf von Branntwein in Läden an die Gesellschaft übergegangen waren, stieg die städtische Einnahme aus dieser Quelle von 254,393 Kronen im Jahre 1874 auf 665,512 im Jahre 1875 und 721,862 im Jahre 1876. Von da ab ist der Gewinn der Stadt wieder etwas gesunken und hält sich jetzt um 600,000 Kranen herum. Aber das ist kein Unglück, im Gegentheil! Denn diese Gewinnabnahme zeigt an, daß, seit die Gesellschaft das Geschäft völlig in der Hand hat, die Schraube nach Möglichkeit fester angezogen wird und die sociale Wirkung des Systems nun erst recht beginnt. Stände nicht eine gemeinnützige Actiengesellschaft zwischen der Gewohnheit des Trinkens und der städtischen Casse, so könnten die Vertreter der letzteren in Gefahr kommen, in ihrem Interesse die erstere bewußt oder unbewußt zu begünstigen, wenigstens nicht so entschlossen allmählich einzuschränken, wie die Rücksicht auf wahres Bedürfniß und wirklich dauerhaften Erfolg es gestattet.

Seit 1876 ist danach der Branntweinverkauf im Kleinen, aus dem Laden oder in der Schänke, zu Gothenburg in beständigem Sinken. Er betrug, das Jahr am 1. October anhebend gedacht:

Kannen = 26/10 Liter
1875/76 667,396
1876/77 651,220
1877/78 622,574
1878/79 559,459
1879/80 538,586
1880/81 523,536

Nicht ganz die Hälfte dieses Genußverbrauchs kommt auf die Wohnungen, wo er sogar noch etwas stärker abgenommen hat als in den Schänken, ein Zeichen, daß die neue Regelung dieser auch nicht etwa das Uebel in die Familie zurückgetrieben oder den sogenannten stillen Soff begünstigt hat.

Die besonderen Maßregeln, welche die Gothenburger Ausschank-Gesellschaft (Utskänknings Bolag) im Interesse ihres großen socialen Erziehungszweckes ergriffen hat, sind hauptsächlich die folgenden: Minderjährigen unter dem achtzehnten Jahre oder schon angetrunkenen Personen darf keinerlei berauschendes Getränk verabreicht werden: an Sonn- und Feiertagen wird nur zur Mahlzeit der sogenannte Appetitschnaps verabfolgt, sonst kein geistiges Getränk, ebenso am Sonnabend Abend von sechs, an den übrigen Abenden im Winter von sieben und im Sommer von acht Uhr an. Die Gesellschaft sorgt nicht nur in ihren Schänken für gute Speisen zum billigen Preise, sondern hat noch besondere Speisestellen (Volksküchen) für Arbeiter errichtet, in denen außer dem Appetitschnaps kein Branntwein verzapft wird. Ihr Branntwein ist der beste, welcher überhaupt zu haben, zehnfach gereinigter, wie er genannt wird, während der sonst gewöhnlich feilgehaltene Schnaps in allen Ländern vielfach ein hochgiftiger, rasch ruinirender Fusel ist. Von den Schwankungen der Großhandelspreise hat die Gesellschaft sich freizuhalten gestrebt, um nicht durch sinkende Preise zeitweilig zu stärkerem Verbrauch zu reizen, der dann leicht in Gewohnheit überginge.

Den Erfolg dieses Verfahrens und der ganzen neuen Ordnung des Kleinverkaufs von Gothenburg kann man, außer an der Abnahme der Zahl der ausgeschänkten und verkauften Kannen, auch noch an der Abnahme der Fälle von Säuferwahnsinn (delirium tremens) und der Bestrafungen wegen Trunkenheit messen.[1]

Nach dem Allem kann es nicht Wunder nehmen, wenn die übrigen schwedischen Städte sich beeilt haben, Gothenburgs Beispiel zu folgen. Von den Orten über 5000 Einwohner hat nur Lund sich bisher ausgeschlossen; ich weiß nicht, ob aus Rücksicht auf seine Studenten.

Auch die norwegischen Städte haben sich, sobald ein entsprechendes Staatsgesetz sie in den Stand setzte, die Gothenburger Erfindung zu Nutze gemacht. Außerdem erregte sie vor Allem in England Aufsehen: in den Parlaments-Actenstücken findet man wiederholt Correspondenzen über diesen Punkt mit dem Consul in Gothenburg und dem Gesandten in Stockholm abgedruckt, und der jetzige Handelsminister Chamberlain gilt für einen Freund der Einführung des Gothenburger Systems auf den britischen Inseln.

Sollen wir es denn nun nicht auch in unseren deutschen Städten einführen, d. h. vorerst die Hindernisse hinwegzuräumen suchen, welche unsere Reichs- und Landesgesetzgebung ihm entgegenstellt?

Einfach „Ja“ hierauf zu antworten bin ich noch nicht im Stande. Wir wollen doch lieber erst die Ergebnisse des Verfahrens mit eigenen, deutschen Augen und Ohren prüfen. Bis jetzt liegen nur ausländische Berichte und Urtheile vor. Es wäre töricht, das Gothenburger System seines fremden Ursprungs halber von vornherein für unanwendbar auf unsere vaterländischen Verhältnisse zu erklären, aber ganz sicher gehen wir auch nur, wenn zuverlässige Kenner unserer Verhältnisse einmal im skandinavischen Norden selbst untersuchen, was an sich und was für uns an der Sache ist.

Dies ist, wie ich annehme, eine der Aufgaben, für welche die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Trunksucht“ gegenwärtig in’s Leben gerufen wurde. Gewiß könnte auch die Reichsgewalt solche Untersuchungen anordnen. Aber wir wissen doch nicht, ob, wie bald und auf welche Art sie es thun wird. Ein Petitionssturm in diesem Sinne würde mindestens ebenso viel Agitationskraft erfordern, wie eine commissarische Prüfung der in der Bildung begriffenen Gesellschaft. Diese geht natürlich in solchen Vorstudien nicht auf, sondern hat gleichzeitig und nachher viel, unendlich viel andere Arbeit vor sich, sodaß jene Untersuchungsreisen ihr verhältnißmäßig nach am wenigsten Mühe bereiten werden, und da sie sich aus Männern aller Parteien, Richtungen und Berufsstände zusammensetzt, so wird es gerade ihr dabei an allseitiger Erwägung wie an sachgemäßer Unbefangenheit nicht fehlen.

A. Lammers.     




  1. Was zunächst die Bestrafungen angeht, so charakterisiren den früheren Zustand die Jahre 1855 und 1856, wo solcher Bestrafungen 3431 und 2658 vorkamen, bei 33,000 Einwohnern. Wenn 1876 fast ebenso viel Betrunkene bestraft wurden wie 1856, nämlich 2542, so hatte sich inzwischen die Bevölkerung mehr als verdoppelt, auf rund 70,000, und thatsächlich kam damals also nicht halb soviel straffällige Trunkenheit mehr vor, wie zwanzig Jahre früher. Man kann an diesen Jahressummen aber auch den Einfluß der Ausschank-Gesellschaft deutlich wahrnehmen. Sie trat im Herbste 1865 in die Sache ein: 1865 wurden 2070 Trunkene bestraft und 1866 nur 1412. Von diesem Stande stieg die Zahl wieder von 1871 an aufwärts, aber nur etwa gleichmäßig mit der Zunahme der Einwohnermenge, auf welche sie sich vertheilt, bis dann nach 1877 ein neues Sinken eintrat, also nicht gar lange nach der völligen Beherrschung des Branntweinangebots durch die gemeinnützige Actiengesellschaft. Noch augenfälliger hoben sich die traurigen Fälle des Säuferwahnsinns vermindert. Es waren ihrer nach den Zusammenstellungen des Gothenburger Aerztlichen Vereines 1865 118, 1870 90, 1875 80, 1878 64, 1879 42, 1880 44.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_079.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)