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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Nomadenvolkes der Samojeden, welches einzig und allein von der Renthierzucht lebt.

Seltener steigen sie mit ihren Heerden in die dritte Zone Rußlands hinauf, in die Zone der beginnenden Wälder, in welcher die Weißtanne und der Lärchenbaum die Einöden beleben und in welcher Schaaren von Eichhörnchen ihr muthwilliges Spiel treiben.

Fragt man nun nach dem Grunde, der diese Menschen bewegt, in einem so ungastlichen Lande zu wohnen, was sie davon abhält, zu wandern nach den spärlich bevölkerten südlichen Grenzländern, so findet man in der genaueren Beobachtung ihrer Lebensweise die gewünschte Antwort. Die Samojeden sind reine Nomaden, denen der Ackerbau durchaus fremd ist, und die nur durch die Zucht von Renthieren ihr Leben zu fristen verstehen. Sie müssen sich daher bei der Wahl ihres jeweiligen Wohnsitzes nicht nach eigenem Geschmacke, sondern nach den Bedürfnissen ihrer Heerden richten, und so sind sie sozusagen Sclaven ihrer Hausthiere geworden. Das Ren kann bekanntlich den Sommer in den Wäldern der südlicher gelegenen Landstriche nicht gut vertragen, da es dort von Insecten verschiedener Art in schrecklicher Weise geplagt wird, und im Winter sucht es selbst im wilden Zustande die Tundra auf, welche ihm an Flechten und Moosen Nahrung in Hülle und Fülle bietet. So wohnt der Samojede auf dem Weidelande seiner Heerde und wechselt hier seinen Sitz, so oft es nöthig ist, neue Weidegründe aufzusuchen.

Dieser Wohnungswechsel bereitet ihm freilich keine besonderen Schwierigkeiten; er ist ja ein Nomade. Sein Haus kann leicht abgebrochen und ebenso leicht wieder errichtet werden. Sein Zelt, die „Jurta“, besteht ja nur aus wenigen Stangen, die schräg gegen einander aufgestellt und mit Renthierfellen überdeckt werden. Ein kräftiger Sturmwind wirft manchmal die ganze Bude über den Haufen, aber der Sohn der Tundra ist zu wetterfest, um auf Dach und Fach besonderes Gewicht zu legen. In der luftigen Wohnung, wie sie unsere Abbildung zeigt, trotzt er, mit Renthierfellen bekleidet, dem schneidenden Froste des Polarwinters.

Wohl wärmt er sich von Zeit zu Zeit an dem Feuer, das er mitten in seiner Jurta anzündet, aber warme Speisen sind ihm völlig unbekannt. Er nährt sich vom Fleische der geschlachteten Renthiere, von Seehunden und Fischen, welche er roh verzehrt, und die einzige warme Kost, die er genießt, besteht in dem frischen Blute, welches er gierig trinkt. Diese thierische Ernährungsweise mag wohl die Veranlassung dazu gegeben haben, daß die Russen dieses Nomadenvolk Samojeden, das heißt Selbstesser oder Menschenfresser, benannten. Sie selbst nennen sich, nebenbei gesagt, „Chasawa“, was so viel wie „Menschen“ bedeutet.

Man pflegt die Culturstufe der Völker nach ihren Sitten und Gebräuchen zu bemessen. Besonders interessante Einzelheiten dürften, was dieses Capitel anbelangt, unsere Leser in diesem Falle nicht erwarten, und in der That, was wir hier zu erzählen haben, ist äußerst einfach und naiv.

Man berichtet uns, daß das Samojedenkind unmittelbar nach der Geburt tüchtig im Schnee herumgewälzt wird, wobei die Mutter die Worte spricht: „Leide Kälte, leide Hunger und Frost!“ Dieser samojedische Taufspruch scheint uns, was seine Uebersetzung anbelangt, ein wenig verstümmelt zu sein, aber einen tieferen Sinn wird ihm Niemand absprechen wallen. Dieser Sinn ließe sich wohl in die Worte zusammenfassen: „Lerne Leid und Weh ertragen, und beuge nicht dein Haupt vor dem Unglück, das wie Hunger und Frost zu den natürlichen Beigaben des Lebens zählt.“ Die Befolgung dieser samojedischen Weisheit könnten wir getrost Manchem von den Philosophen unseres hochcivilisirten Europa empfehlen.

Doch nicht mit diesen, sondern nur mit dem neugeborenen Samojeden haben wir es jetzt zu thun. Nach dem oben beschriebenen Schneebade wird das Kind in ein Renthierfell genäht, und es wächst dann ohne besondere Erziehung zum Jüngling oder zur Jungfrau heran.

Bei anderen nomadischen Völkern, wie z. B. bei den Kirgisen und Kalmücken, werden die Brautwerbung und die Hochzeit mit besonderem Prunk gefeiert. Das Weiterleben umgiebt den Sohn der Wüste mit einem eigenartigen Zauber, und unsere Leser werden sich ohne Zweifel noch des kalmückischen Brautzuges erinnern, welchen ihnen die „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1880, Nr. 50) vorführte. In der armseligen Jurta des Samojeden sind die Heirathsceremonien viel einfacher. Der verliebte Jüngling schickt einen Brautwerber in das Zelt seiner Auserkorenen, und dieser trägt eine Stange, die am oberen Ende mit einem Haken versehen ist. Behält die Familie die Stange, so wird dies als Jawort der Braut gedeutet, kehrt dagegen der Werber mit der Stange heim, so hat er sich für seinen Auftraggeber einen Korb geholt.

In den nächsten Tagen wird der Ehecontract geschlossen, wobei der Bräutigam einige Renthiere dem Vater des Mädchens übergeben muß. Eins derselben wird in der Jurta der Braut geschlachtet und von den Angehörigen der beiden Familien roh verzehrt. Nachdem die Gesellschaft ihren Hunger gestillt, wird ein Corso um die Jurta des Bräutigams veranstaltet. Der junge Mann springt aus seinem Zelt hervor, holt sich seine Frau während der Fahrt aus ihrem Schlitten und trägt sie in seine Jurta.

Damit ist die Hochzeitsfeier beendigt, aber die Ehe bindet den Samojeden nicht für ewige Zeiten. Mann und Frau können sich scheiden, wenn es ihnen beliebt, und von Neuem heirathen, und das geschieht oft; denn das Loos der Frauen ist auch bei den Samojeden beklagenswerth; sie müssen die meisten Arbeiten verrichten und für ihre Herren und Gebieter sorgen.

Wie wird nun der Samojede begraben? Einfach, ohne Sang und Klang! Man legt die Leiche in eine offene Kiste und packt in dieselbe einige Habseligkeiten des Verstorbenen. Ein Renthier schleppt diesen schlichten Sarg auf einen nahen Hügel, auf welchem es geschlachtet wird. Das Trauergeleite ißt nun von diesem Schlachtopfer, so viel es verzehren kann, und überläßt die übriggebliebenen Fleischstücke dem Todten als Wegzehrung. Nach vollendetem Mahl kehren die Lebenden heim, und die Leiche bleibt unbestattet liegen, bis sie Raubthieren zum Fraße verfällt. Aber das Andenken des Verstorbenen wird lange heilig gehalten. Drei Jahre nach dem Tode schwebt nach dem landesüblichen Glauben der Geist des Samojeden über den Gefilden seiner Väter und nimmt unsichtbar an den Leiden und Freuden der Lebenden theil. Während dieser Zeit machen sich nun die Hinterlassenen ein Holzbild des Verstorbenen, setzen es Mittags an den Ort, wo sie ihre Mahlzeit verzehren, und legen es Abends in’s Bett.

Wir haben die Samojeden im Eingange des Artikels als Heiden bezeichnet. In der That steht ihre Religion auf einer sehr tiefen Stufe der Entwickelung; denn sie glauben zwar an ein höchstes Wesen, welches sie „Num“ nennen, aber opfern dabei Götzen, die roh aus einem Holzblock gezimmert sind. Auch bei diesem religiösen Actus spielt das Schlachten eines Renthieres die Hauptrolle, und das eifrigste Verzehren des Fleisches scheint die einzige Andachtsäußerung zu bilden.

Erstaunt wird hier wohl mancher unserer Leser fragen: Ist denn in jenes „europäische Land“ das Licht des Christenthums noch nicht gedrungen? Hat denn die nicht weit entfernte abendländische Cultur dieses seiner Natur nach gutmüthige Volk mit ihren Wohlthaten nicht versorgt?

Bekehrungsversuche sind unter den Samojeden wohl gemacht worden, aber von der Civilisation haben sie nur zwei Dinge erhalten: die Feuerwaffen und das Feuerwasser. Der Branntwein, den sie „Jucasta“ nennen, ist bei ihnen sehr beliebt geworden und stürzte das Volk in schweres Unglück.

Das bezeugt die neueste Geschichte dieses Stammes, wenn von solcher überhaupt die Rede sein kann. Von kriegerischen Thaten seiner Vorfahren weiß der Samojede nichts zu berichten; denn ihm fehlt die Verwegenheit des Tekinzen und der schlaue Muth des Tataren. Während diese, seine mongolischen Brüder, die Dörfer und Städte Osteuropas bedrohten, weidete der Samojede friedlich die Renthierheerden auf den weiten Tundren des hohen Nordens.

Als das Volk der Samojeden schließlich mit den nordwärts vordringenden Russen in Berührung kam, da gerieth es zunächst unter die Abhängigkeit Nowgorod’s, dem es Tribut entrichten mußte, kam später unter das Scepter der Czaren, denen es Abgaben zu zahlen hatte, und als schließlich eingewanderte Russen auf den Tundren Renthierzucht zu betreiben anfingen, da wurden die Samojeden übervortheilt, geriethen in Schulden, verloren zum großen Theil ihre Renthierheerden und sanken herab zu Leibeigenen der Fremden.

Heute hat sich unter milderen Gesetzen ihre Lage günstiger gestaltet, aber der Stamm ist im Aussterben begriffen und zählt im europäischen Rußland kaum 6000 Seelen, während in Sibirien vielleicht noch 10,000 von ihrem Volke leben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_096.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)