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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Bild von dem Paris ohne Pferde – das allein sagt schon genug – längst vollständig verwischt hat, wird eine kurze Auffrischung desselben durch die Vervollständigung meines Berichts von 1871 unseren Lesern vielleicht doch willkommen sein.

Von jenem ersten Artikel wiederhole ich hier des Zusammenhangs wegen nur das Wesentlichste, muß aber auch manches, namentlich mich persönlich Angehendes, das ich früher verschwieg, nun nachholen.

Meine Absicht war nicht, nach Paris, sondern nach Versailles zu reisen, als ich am 7. Februar früh auf dem Bahnhofe von Orleans eine Fahrkarte nach Vitry nahm. Der freundliche Präfect des Departements Loiret (ein sächsischer Landsmann, Herr von Könneritz) hatte mich mit einem Paß zur Reise über Versailles nach Deutschland ausgerüstet; auf diesen hin erhielt ich die Fahrkarte bis Vitry, der nächsten durch die Bahn zu erreichenden Station von Versailles, und dampfte am Siebenten früh acht Uhr in Gesellschaft zweier deutscher Officiere und dreier Französinnen, die nach ihrem geliebten Paris zurückkehrten, gen Norden ab. Der Morgen war schön, die Fahrt reizend, besonders durch die Unterhaltung mit den beiden Officieren, einem Obersten und seinem Adjutanten, welche wahrhaft fesselnde Züge aus ihrem Kriegsleben mittheilten. Eine der Damen konnte das Rückwärtsfahren nicht vertragen, weshalb ich ihr einen Tausch der Plätze anbot, was sie dankbar annahm. Ich war dadurch dem Obersten gegenüber zu sitzen gekommen, der plötzlich laut zu mir sagte: „Betrachten Sie sich einmal die blühende Schöne am Fenster: die hat Wangen und Lippen nicht übel gemalt.“ Mein Blick folgte der bezeichneten Richtung, belehrte mich aber auch sogleich, daß die Bemerkung verstanden worden sei. Wenige Minuten später wendete dieselbe Dame in unbefangenster Weise sich im besten Deutsch an den Obersten mit der Frage, ob Paris schon von deutschen Truppen besetzt sei.

Nun gab’s freilich erst ein Tableau – aber der alte Herr besiegte sofort die kleine Verlegenheit, indem er den Damen die Versicherung gab, daß die um Paris gezogene Demarkationslinie kein deutscher Soldat während des Waffenstillstandes überschreite, falls dieser nicht verletzt werde. Die Unterhaltung nahm nun ihren Fortgang in aller Heiterkeit. Die Deutschsprecherin bemerkte dabei, daß sie eine Polin sei und mit ihren Pariser Freundinnen aus dem Süden zurückkehre. Für mich hätte diese Bekanntschaft jedoch leicht verhängnißvoll werden können.

In Juvisy, dem Knotenpunkt der Bahnen von Orleans, Corbeil und Paris, kam unsere Gesellschaft aus einander. Es war da längerer Aufenthalt. Ich benutzte ihn, mich für die Weiterreise kräftig zu verproviantiren: ein schwäbischer Marketender packte mir eines der langen Laibe Brod, dazu vier Stück Butter und ebensoviel Würste in ein blaues Papier und umwickelte es fest mit Bindfaden. Dieses Paket, das an demselben Tage noch eine große Rolle spielen sollte, stolz unterm Arm, trat ich die Weiterfahrt nach Vitry an.

Ich kann’s nicht verbergen, daß mich die Nähe der Weltstadt mit dem ungeheuren Schicksal mehr und mehr aufregte. Es ist ja Paris, dem man sich Ruck um Ruck näher fühlt. Und wie liebenswürdig begrüßt uns die mächtige Stadt mit ihrer reizenden Umgebung auf dieser Fahrt der Seine entlang, wo die Bauten und Anlagen des Luxus und der Industrie an Großartigkeit und Geschmack mit einander wetteifern – und wo ebendeshalb die Spuren des Krieges um so furchtbarer erscheinen! Da liegt Choisy-le-Roi mit seinen Fabrikpalästen in dem schönen Thale, aber in der Nähe zweier gefährlicher Wächter, der Forts Ivry und Charenton. Waren es nun ihre oder waren es deutsche Kugeln, welche diese Häuserreihen längs der Straße in grausig aufstarrende Ruinen verwandelt hatten? – Mancher Wehschrei wurde laut in den mit Heimkehrenden überfüllten Waggons, aber unterdrückt von der Furcht vor dem hier noch allgewaltigen Feinde; denn vor uns lag Vitry, in diesen Waffenstillstandstagen ein Schreckenspunkt für die Franzosen, die auf der Orleansbahn nach Paris hinein oder von dort heraus wollten. Hier war die Etappenstation der Demarcationslinie. Da ich die Unmöglichkeit erkannte, zu Fuß von da nach Versailles zu gelangen, so ertheilte mir der commandirende Officier die Erlaubniß zur Weiterfahrt nach Paris, von wo aus auf einer der beiden Eisenbahnen wohl leichter nach Versailles zu kommen sein könnte. Verhehlt wurde mir nicht, daß es deutschen Schutz in Paris nicht gebe und daß man wünsche, ich möge auf demselben Wege zurückkehren.

Ich habe in dem frühem Artikel erzählt, welche tobende Wuth in der ganzen Wagenreihe ausbrach, als der Zug Vitry verlassen hatte und die deutschen Fahnen den Blicken entschwunden waren. Die Wageninsassen waren theils Pariser, welche den Waffenstillstand zum Einkauf von Nahrungsmitteln, theils Flüchtlinge der Hauptstadt, welche ihn zur Heimkehr benutzten. In Allen kochte der Ingrimm der ausgestandenen Leiden und noch mehr der Waffenschmach. Alles, was unbändiger Haß und machtloser Rachedurst im Ausdruck der Rohheit, im Schimpfen zu leisten vermochten, wurde gegen die „Prussiens“ losgelösten. Man ballte die Fäuste und spuckte zu allen Fenstern hinaus, kurz, es war, als ob hier die Grade des Patriotismus nach denen der Tollheit gemessen würden – und zwar bei Männern wie bei Weibern. In diesem Augenblick lernte ich den Werth meines Incognito schätzen und beschloß, es als meinen besten Schutz zu bewahren. Hätte in diesem Augenblick mich Einer als „Prussien“ erkannt und verrathen, so wäre ich schwerlich mit nach Paris hineingekommen.

Als der Zug schon durch die „Enceinte“ gerasselt war und Alles nach dem Gepäck griff, kamen mir plötzlich die drei Französinnen in den Sinn. Wenn ein böser Zufall dich wieder zu ihnen gesetzt, – ob sie dich als „Prussien“ verrathen hätten? Und ob sie’s nicht noch immer thun könnten? Wo sie wohl sind? Da ich nicht mit Taschen und Schachteln belastet war, so schob ich mit meinem Proviantpaket mich rasch durch die schwatzende Menge dem Ausgang zu; der wachende Mann am Gitter überzeugte sich, daß ich nur „un peu de pain“ (ein Bißchen Brod) einführte, und öffnete mir mit einem freundlichen „Entrez, Monsieur!“ die Thür – und dann that ich meinen ersten Schritt in Paris hinein und kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie meine drei Damen auf dem einzigen oder letzten Fiacre des Platzes nach der Seine hin davonfuhren.

Wie gern ich auch derselben Richtung gefolgt wäre, um den Anblick der größten Herrlichkeiten von Paris der Seine entlang im Vorbeigehen mitzunehmen, so gebot jetzt die Vorsicht, links abzuschwenken, zumal auch die sogenannte „Rive-gauche-Bahn“ (die Bahn am linken Seine-Ufer) nach Versailles hier am nächsten zu erreichen sein mußte.

Das Wunderlichste von der Welt war mir in diesem Augenblick meine eigene Stimmung; sie bestand aus einer sehr bunten Zusammensetzung. Ganz vornedran strahlte die ungeheure Freude über das Glück, das tausendmal im Leben ersehnte Paris nun doch zu sehen; auch etwas Stolz drängte sich ein, daß dieses gerade in einer solchen Zeit geschehe; selbst die Ehrfurcht machte sich bereit, die großen Denkmale der Weltgeschichte zu begrüßen. Gleich neben der Freude zappelte die Neugierde jedem neuen Bild und Erlebniß jedes nächsten Augenblickes entgegen; einige Beklemmung stellte sich ein über das eigentlich doch ein wenig tolle Wagniß, und die racheschnaubende Umgebung, die ich kaum verlassen hatte, hätte mir vielleicht störende Besorgniß verursachen können, wenn sich nicht im allen Herzen das akademische Blut wieder gerührt hätte; mit kecker Studentenzuversicht hob ich mein bemoostes Haupt empor und sprach zu mir: „Alter, sei gescheit, das Andere findet sich!“

Zweierlei mußte ich vor Allem festhalten. In ganz Frankreich herrschte damals eine wahre Gespensterfurcht vor „Spionen“ und „Verrath“. Um nicht nach dieser gefährlichen Richtung hin verdächtig zu werden, durfte ich von meinem Plane von Paris zur Orientirung gar keinen und von der Lorgnette nur vorsichtigen Gebrauch machen. Zweitens mußte ich das Sprechen, wenigstens von längeren Sätzen, vermeiden; denn an meinem Französisch hätte auch jedes andere als ein Pariser Ohr sofort erkannt, daß ich nicht vom Strand der Seine, sondern von dem der Itz bei Coburg herstamme. Und so schritt ich denn, mein mächtiges Paket unterm Arme, ohne Stock und Schirm, mit eifrigem Geschäftsgang den Boulevard de l’Hopital dahin, bis die Straße sich mir zu lang nach Süden erstreckte. Ich war an zwei rechts abbiegenden Straßen vorübergekommen und ging nun zurück, um in die erste derselben einzulenken.

Möglichst die westliche Richtung verfolgend, kam ich von Straße zu Straße, immer rechts und links alle Vorkommnisse beobachtend. Was ich da gesehen, wäre wirklich des Wagnisses nicht werth gewesen. Bilder des Elends und der Verkommenheit der armen Menschen, die Folgen der langen Belagerung und der Nahrungsnoth waren es, die mir in den verschiedensten Gestalten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_098.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2023)