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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Frau ist leidend, alles, weil noch immer auch für viel Geld keine guten Nahrungsmittel zu haben sind.“

„Was?“ fuhr ich fast ärgerlich, ihn da an. „Sie haben Weib und Kind, denen gesunde Nahrung fehlt, und verschweigen mir das?“

Rasch riß ich mein Paket auf, zeigte ihm meine Vorräthe, warf die „Confituren“ dazu und übergab ihm Alles. Er starrte mich an, aber mit leuchtenden Augen, und ohne ein Wort zu verlieren, rannte er mit dem Paket davon.

Ich setzte mich wieder an meinen Tisch, und es überkam mich ein so seelenfrohes Gefühl, wie ich es lange nicht empfunden. Wie segnete ich meinen Einkauf in Juvisy! In der Freude meines Herzens und pochend auf meine „guten Oesterreicher“ gönnte ich mir noch eine Flasche Wein und trank ein volles Glas auf das Wohl meiner Lieben in der fernen Heimath, die keine Ahnung davon haben konnten, daß ich in diesem Augenblick mitten in Paris als ein einsamer froher Mensch dasitze. Auch der Unterhaltung der Gäste, die beim Abendschoppen in der Stube neben dem Speisezimmer saßen, mußte ich lauschen: sie drehte sich zwar meist um das „Ravitaillement“ (die Wiederverproviantirung) und die angemeldeten Zufuhren, aber auch des morgenden Tages gedachten sie, an welchem die Wahl zum Parlament in Tours und die Entwaffnung der Linientruppen und die Uebergabe der Waffen an die „Preußen“ stattfinden solle. Das regte auch an diesen Tischen wieder zu heftigen Ausbrüchen des Ingrimms gegen die „Prussiens“ auf.

Es wurde mir nach und nach unheimlich zu Muthe; es war eine lange Zeit vergangen. Der Kellner, der wohl das fortgetragene Brod nicht vergessen konnte, fragte mich mehrmals mit zweifelnder Miene, ob „mon ami“ wohl wieder komme? Mir stieg darüber nicht der geringste Zweifel auf, mein Vertrauen auf ihn stand felsenfest. Und ich hatte Recht. Endlich kam er, und zwar glückstrahlend: die Freudenthränen glänzten ihm noch an den Wimpern. Er konnte mir die Hände nicht dankbar genug drücken für die große Hülfe, für die Rettung seiner Lieben, die nun mit gesunder Kost versorgt seien für die wenigen Tage, bis Hülfe von außen kommen müsse. Damit ich nicht in Zahlungsverlegenheit sei, steckte er mir ein Fünffrankenstück zu; als ich ihm aber mittheilte, wie ich mir indeß geholfen, daß ich den österreichischen Thalern zu Liebe ein „Autrichien“ geworden sei, lobte er das als ein gutes Auskunftsmittel auch für morgen.

Jules P. führte mich nun in mein Nachtquartier, das „Hôtel de Tours“, gerade der Salpetrière gegenüber, jenem großartigen Asyl für (nahe an 4000) alte und Pflegeort für geisteskranke Frauen. Vom Hausplatz dieses „Hôtel“ aus, der zugleich ein Weinhandelslocal zu sein schien, ging eine sehr enge Wendeltreppe hinauf, durch einen sehr engen Gang in ein sehr langes Zimmer, dessen eine Schmalseite ein Bett, dessen andere ein ebenso breites Fenster einnahm; die Möbel einfach, aber genügend. Ich sah mich wohlgeborgen. Wir verabredeten auf sieben Uhr morgen den Abmarsch und schieden, nach so kurzen aber ernsten Erlebnissen, wie ein paar alte Freunde.

Ich war allein, aber zur Ruhe brachte ich es noch nicht. Lange blickte ich zum Fenster hinaus, mit dem aufgeregten Geist in die Ferne eilend; denn die Nähe bot zu wenig. Alles da draußen still und dunkel. Nur in dem großen Gebäude gegenüber waren einzelne Fenster erhellt. Es trug wohl auch das rothe Kreuz; denn die meisten öffentlichen Gebäude waren ja Leidensstätten geworden. Großes, schönes, armes Paris, was hatte der Wille der Menschen in Dir wieder einmal aus Dir gemacht!

Ich mußte einen Blick auf das geistige Treiben in dieser abgesperrten Welt werfen und nahm dazu die erste beste von den Zeitungen vor, die ich in den verschiedenen Straßen gekauft hatte. Der Griff war gut. „La petite Presse“, ein auf erbärmliches gelbes Papier gedrucktes Soublatt, gab mir vor Allem Aufschluß über die vielen kleinen Särge, die ich an diesem 7. Februar gesehen hatte. „Pour les petits enfants“ („Für die kleinen Kinder“) war ein Artikel überschrieben, welcher die maßgebenden Diplomaten beschwört, der massenhaften Hinopferung der Unschuldigen endlich Einhalt zu thun. Er wies statistisch nach, daß in der Woche bis zum Siebenten 900 Kinder in Paris gestorben seien, darunter 716 unter einem Jahre! Geboren waren in derselben Zeit nur 90 Kinder. „Das Bombardement,“ sagte er, „hat aufgehört, aber die Sterblichkeit nimmt zu. Wie viele der unglücklichen Säuglinge sterben vor Hunger und Frost! Ein herzzerreißender Anblick sind diese kleinen Skelete, die kaum noch Kraft genug haben, ein wenig Brod zu kauen. Aus Mangel an Milch sind während der vier Belagerungsmonate über 10,000 Kinder zu Grunde gegangen. Jetzt besitzt Paris nur noch 3000 Milchkühe, und selbst diese sollen geschlachtet werden, sobald der Verproviantirung sich ein neues Hinderniß entgegenstellt. Vier Fünftel von den wenigstens 500,000 Liter Milch, welche Paris täglich brauchte, kamen aus der Brie, Beauce, Picardie, Normandie und Orléanais, – Provinzen, die jetzt sämmtlich von den deutschen Armeen besetzt sind. Sollte nicht die Regierung vor Allem dafür sorgen, daß wenigstens einige dieser Milchzufuhrlinien für Paris aufgethan werden, um uns den Rest unserer Kinder zu retten?“

So jammerte am 7. Februar 1871 dieses Blatt. Der ganze übrige Inhalt drehte sich um die „Question des vivres“, um die Nahrungsmittelfrage, um die Zufuhren auf den Bahnen, um die in Belgien und England versprochenen Sendungen – der Magen beherrschte den Geist völlig, und diese, wie jede andere Zeitung und der Anblick der Menschen auf Gassen und Plätzen, Alles verkündete die entsetzliche Wahrheit: das stolze Paris bettelte um Brod! So stand Victor Hugo’s „Herz der Welt“ vor zwölf Jahren da! – Tief aufgeregt und vom Frost in meinen nassen Kleidern und in dem kalten Zimmer geschüttelt, sagte ich endlich dem Paris draußen gute Nacht und ging zur Ruhe.




Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXX.

Ueber neue Gedichte, verehrte Freundin, geht das deutsche Publicum jetzt allzu leicht zur Tagesordnung über; wäre nicht der heilige Christ, unter dessen Tannen- und Fichtenbäumchen noch den eleganten Miniaturausgaben eine Stätte bereitet wird, man müßte fast befürchten, daß außer den Sortimentsbuchhändlern Niemand diese leichtgeflügelten Geisteskinder in die Hand nimmt; es giebt freilich Ausnahmen von der Regel. Einige Lyriker sind Mode: und da salutirt das Publicum, wenn sie erscheinen, und die kritische Wache ruft in’s Gewehr.

Sie freilich, verehrte Freundin, lesen nicht des Salongesprächs wegen, und auch dies Salongespräch dreht sich mehr um neue Romane und neue Lustspiele, als um Gedichte; doch Sie nehmen auch die Sammlungen zur Hand, deren Dichter nicht zu den Lieblingen des Tages gehören. Darunter sind einige von gutem Namen in der Literaturgeschichte der jüngsten Zeit; doch das Publicum begnügt sich mit den Namen und bewundert, ohne zu lesen, wie dies schon zu Lessing’s Zeiten der Fall war; denn sonst hätte dieser Autor nicht sein classisches Epigramm auf Klopstock’s Messiade dichten können. Oft aber tauchen auch neue Dichter auf, die sich erst die Sporen verdienen wollen; den echten Freunden und Freundinnen der Musen gewährt es gerade einen besonderen Genuß, zuerst hoffnungsvolle Talente zu begrüßen, denen die Welt noch kein Gehör schenkt.

Einer der älteren Dichter, der zwar noch nicht zu den „alten Heroen“ unserer Literatur gehört, aber doch die schöne Zeit des jugendlichen Strebens weit hinter sich hat, Julius Grosse, hat eine neue Auswahl seiner „Gedichte“ erscheinen lassen. Ein Brief von Paul Heyse ist derselben vorangedruckt; wir sehen daraus, daß Grosse dem feinsinnigen Freunde seine sämmtliche lyrische Habe zugeschickt hat, damit dieser die zur Aufnahme in eine Sammlung geeigneten Gedichte bestimme. Heyse erklärt, es sei ihm weniger darauf angekommen, Gedichte auszuwählen, die sämmtlich kritisch unanfechtbar seien, als die Dichterpersönlichkeit, die sich hier offenbart, zu möglichst entschiedenem Ausdruck zu bringen. Gegenüber der zunftmäßigen Liederfabrikation, der Schablonenlyrik, hebt er die lyrischen Charakterköpfe hervor, deren persönliche Physiognomie das Interessanteste ist.

Julius Grosse gehört keineswegs zu den Dutzendlyrikern; in seiner Lyrik ist ein moderner Pulsschlag unverkennbar. Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie seine epischen Dichtungen, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_100.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)