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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

kenne den Zusammenhang nicht, aber ich will mich dafür verbürgen, daß es keine niedrige Berechnung war, welche sie geleitet hat. Man braucht nur einmal in diese Augen zu blicken, um zu wissen, daß alles Niedrige und Gemeine ihnen unendlich fern liegt.“

Raimund hatte schon bei den ersten Worten langsam das Haupt gewendet und blickte mit einem seltsamen Ausdruck den jungen Mann an, der in seiner erregten Parteinahme alle Vorsicht und Zurückhaltung vergaß. Seine Stimme hatte nicht mehr die leidenschaftslose Ruhe von vorhin; sie klang dumpf und beinahe drohend, als er fragte:

„Hast Du so tief in diese Augen geschaut – tief genug, um schon bei der ersten Begegnung dergleichen darin lesen zu können? Was soll das heißen? Vor zehn Minuten sprichst Du mir von einer Liebe, die Dein ganzes Sinnen und Denken ausfüllt, und jetzt flammst Du auf in solcher Schwärmerei für eine Fremde? Du scheinst sehr schnell in Deinen Neigungen zu wechseln.“

Einen Moment schwankte Paul in der Furcht vor dem Onkel, der mit seiner Einwilligung vielleicht auch sein großmüthiges Geschenk zurücknahm, wenn er erfuhr, daß es sich um ein Glied der gehaßten Familie handele. Dann aber siegte die offene Natur des jungen Mannes, und er beschloß, seine Liebe nicht zu verleugnen, koste es was es wolle.

„Du bist im Irrthum,“ entgegnete er. „Anna von Hertenstein ist mir keine Fremde. Ich sah sie zum ersten Mal in Venedig und ich sprach von ihr, als ich Dir jenes Geständniß machte.“

Die Wirkung dieser Worte war noch schlimmer, als Paul fürchtete. Raimund schwieg, aber seine Augen flammten auf, diese träumerischen, räthselhaften Augen, die das Innere immer nur verschleierten, anstatt es zu enthüllen. In diesem Augenblick zerriß der Schleier, und aus der dunklen Tiefe zuckte ein Blitz auf, wie eine Flamme emporzuckt aus halb erloschenen Gluthen, aber es war ein Blick sprühenden Hasses, der den ahnungslosen Paul traf.

„Also auch Du bist dem Zauber erlegen!“ sagte Werdenfels endlich mit eigenthümlich vibrirender Stimme. „Nimm Dich in Acht, Paul, vor dieser Frau, die so berückend erscheint! Sie ist in der Schule Gregor Vilmut’s erzogen; die Beiden sind von einem Stamme, hart und erbarmungslos gegen Andere, wie gegen sich selbst. Wo Du ein warmes Menschenherz suchst, starrt Dir nur Eis entgegen – Du wirst es erfahren!“

Paul hörte betroffen zu; in seinem Inneren erhob sich etwas, was diesen Worten Recht gab. Er hatte ja selbst schon den eisigen Hauch empfunden, der von der schönen Frau ausging, aber eben weil er die Wahrheit des Vorwurfes fühlte, bekämpfte er ihn mit leidenschaftlicher Heftigkeit.

„Du kennst Anna von Hertenstein nicht; Du läßt Dich einzig von Deinem Vorurtheil leiten. Ich habe das gefürchtet, als ich die Feindschaft entdeckte, die Dich mit diesem Vilmut entzweit, aber was hat meine Liebe denn mit Eurer Feindseligkeit zu thun? Du liebst nicht, Raimund, hast vielleicht niemals geliebt, sonst –“

„Schweig!“ unterbrach ihn Werdenfels in ausbrechender Gereiztheit. „Wie kannst Du es wagen, mir von dieser unsinnigen, strafwürdigen Leidenschaft zu sprechen! Jene Frau ist vermählt.“

„Jetzt nicht mehr. Sie ist Wittwe, schon seit länger als einem Jahre.“

Raimund zuckte zusammen; seine drohend erhobene Hand sank nieder und griff nach der Lehne des Sessels, als suche sie dort eine Stütze.

„Wittwe – so?“

„Du wußtest das nicht?“

„Nein, ich habe seit Jahren nichts von – dem Präsidenten Hertenstein gehört.“

„Du zürnst mir?“ fragte Paul in einem Tone, der zwischen Trotz und Bitte schwankte. „Vielleicht hätte ich besser gethan, zu schweigen, aber ich glaubte Dir volle Offenheit schuldig zu sein.“

Raimund wandte sich ab.

„Laß mich allein!“ sagte er kurz und herrisch. „Es thut nicht gut, wenn wir heute noch länger bei einander sind. Geh!“

„Wie Du befiehlst!“ entgegnete Paul, tief verletzt durch den Ton, den er zum ersten Male hörte. „Ich bedaure es, wenn mein Geständniß Dich erzürnt, aber ich kann es nicht zurücknehmen. Gute Nacht!“

Er schritt nach der Thür; jetzt endlich schien das Gerechtigkeisgefühl des Freiherrn zu siegen; denn er rief ihn zurück:

„Paul!“

Der junge Mann blieb stehen und wandte sich um. Raimund hatte augenscheinlich eine mildere Aeußerung auf den Lippen, als er aber im vollen Lampenschein die schlanke Gestalt vor sich sah, das Antlitz, das seine Züge trug, aber so viel jugendlicher, so viel glücklicher erschien, die hellen blauen Augen, denen die leidenschaftliche Erregung einen erhöhten Ausdruck lieh, da sprühte wieder jener unbegreifliche Haß in seinem Blicke auf und statt des versöhnenden Wortes sprach er mit schneidendem Hohne:

„Ich wünsche Dir Glück zu Deiner Bewerbung um die Frau Präsidentin von Hertenstein!“

Paul erwiderte keine Silbe; er verneigte sich und ging, aber der Zorn über diese unverdiente Behandlung wallte heiß in ihm empor. Er hatte heute zum ersten Male etwas von jenem räthselhaften, unheimlichen Wesen gespürt, welches das Gerücht dem Freiherrn lieh und das sich bisher unter anscheinender Empfindungslosigkeit barg. Es gab also doch einen Punkt, wo die starre Ruhe, die todte Gleichgültigkeit dieses Mannes nicht Stand hielt, eine Regung, die ihn aus seiner Abgestorbenheit zurückriß in das Leben, und diese Regung war der Haß. Es mußte eine jahrelange, tiefgewurzelte Feindschaft zwischen ihm und Gregor Vilmut sein, der jetzt auch die Liebe des jungen Verwandten geopfert wurde, aber mit dem bitteren Gefühl seiner Abhängigkeit erwachte auch der Trotz Paul’s; er war entschlossen, den Kampf aufzunehmen.

Raimund war allein zurückgeblieben. Er hatte sich in den Sessel geworfen, der vor dem Kamin stand, und starrte wie vorhin in die Gluth. Die Erregung schien vorüber zu sein; es war wieder die gewohnte müde Haltung, der alte träumende und ausdruckslose Blick; nur um die Lippen zuckte noch etwas von jenem herben Ausdruck, mit dem die letzten Worte gesprochen wurden.

Das Feuer im Kamin war erstorben und mit ihm all die seltsamen Flammengebilde, welche dort aufzuckten und versanken. Die Brände waren zerfallen, und jetzt erlosch langsam auch die rothe Gluth. Eine Weile leuchtete sie noch; dann wurde ihr Schein matter und matter; endlich irrten nur noch einzelne Funken wie verloren auf und nieder, und zuletzt verschwanden auch sie – nur todte, dunkle Asche blieb zurück.

(Fortsetzung folgt.)




Die englische Seligmacher-Armee.

Beitrag zur neuesten Sittengeschichte.
Von Leopold Katscher in London.

Die Trunksucht hat bekanntlich viel auf dem Gewissen, und man muß daher Allen, die auf deren Beseitigung in vernünftiger Weise hinarbeiten, Recht geben und beistimmen. Namentlich in England wird seit nahezu fünfzig Jahren auf dem Gebiete der Mäßigkeits- oder vielmehr Enthaltsamkeitsbewegung Großartiges geleistet. Die Schankwirthe fühlten sich durch diese Bestrebungen in ihren Interessen längst empfindlich bedroht, haben aber bisher nichts gethan, sich ihrer Haut zu wehren. Hierin jedoch ist seit einigen Wochen ein Umschlag eingetreten.

Als ich ganz kürzlich mit einem Ausländer, der nach London herübergekommen war, um die unerschöpflich anziehende „Stadt der Städte“ zu erforschen, in dem Armenviertel des Eastends umherwanderte, kam uns in der Whitechapelstraße eine Procession entgegen, deren Mitglieder ein gelbes Bändchen im Knopfloch trugen. Ich sagte meinem Freunde, er sehe da eine Abtheilung der „Yellow Ribbon Army“ („Gelbband-Armee“), die erst ganz kürzlich unter den Auspicien der Wirthschaftsinhaber begründet wurde, um der „Blue Ribbon Army“ („Blauband-Armee“) ein Paroli zu biegen. Die sonderbare Institution dieser blaubebänderten Heerschaaren wurde vor etwa einem Jahre aus dem an Temperenzvereinen so reichen Nordamerika hierher verpflanzt und hat den Zweck, der religiösen Gleichgültigkeit, sowie der Trunksucht zu steuern. Ihre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_124.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2023)