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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Das letzte von vieren! Die beiden Schwestern sind gestorben, und dann hatte ich noch einen Buben – einen einzigen – der ist umgekommen bei dem Brande von Werdenfels!“

Die Worte klangen dumpf und eintönig, aber die Spitze des Bergstockes bohrte sich tief in den Schnee; so schwer lehnte sich der Mann darauf, dessen Augen sich gleichfalls einzubohren schienen in die Erde.

„Dieser unglückselige Brand!“ rief Paul. „Ich habe erst kürzlich davon gehört und von all dem Elend, das er angerichtet hat. Also Sie haben Ihren Sohn dabei verloren?“

Der Bauer sah auf, wieder mit jenem finsteren argwöhnischen Blicke, welcher der Theilnahme eines Fremden mißtraut, die offenen freundlichen Züge desselben schienen ihm aber Vertrauen einzuflößen.

„Alles hab’ ich verloren!“ sagte er bitter. „Haus und Hof, Glück und Gesundheit und meinen Buben dazu, meinen Toni! – Er war fast so alt wie Sie, der bravste und stattlichste Bursche im ganzen Dorfe, und mir war er an’s Herz gewachsen, vielleicht zu sehr. Da kam das Feuer, und mein Hof brannte zuerst. Wir wollten wenigstens das Vieh retten; es brannte schon lichterloh über unseren Köpfen, aber wir versuchten es doch. Da schwankten mit einem Male die Balken – der Toni riß mich zu Boden, warf sich über mich, und um uns krachte alles zusammen. Ich kam mit dem gebrochenen Fuße davon, aber mein armer Bube, der mich mit seinem Leibe gedeckt hatte – den zogen sie mit zerschmettertem Kopfe hervor.“

Er nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch das eisgraue Haar. Es lag etwas Wildes, Krampfhaftes in der Bewegung, und in den verwitterten Zügen zuckte es unheimlich, während er fortfuhr:

„Seit dem Tage war kein Segen mehr im Hause. Es war nur wenig versichert, und das reichte nicht hin, den Schaden zu bessern. Ich lag ein Jahr lang nieder an dem gebrochenen Fuße, und als ich wieder zu Kräften kam, war die Wirthschaft halb zu Grunde gegangen. Der Toni fehlte; ich konnte nicht zugreifen wie sonst; wie ich auch arbeitete und schaffte, es ging doch zurück. Der Hof wurde mir verkauft – dann starb mir mein Weib, dann die beiden Kinder und jetzt – verdien’ ich mein Brod im Tagelohn bei den Bauern, und es ist ein schweres Brod!“

Der Alte holte tief Athem und drückte den Hut wieder in die Stirn. Es lag etwas Ergreifendes in dieser schlichten Erzählung, die in wenigen Worten das zerstörte Leben einer ganzen Familie aufrollte, zerstört durch das Unglück eines einzigen Tages.

„Das ist allerdings eine traurige Geschichte,“ sagte Paul, der mit aufrichtiger Theilnahme zugehört hatte. „Ich glaubte, jenes Brandunglück sei im Laufe der Jahre vergessen und überwunden worden. Für Sie und die Ihrigen ist es aber doch eine allzu schwere Schickung gewesen.“

„Schickung?“ lachte der Bauer höhnisch auf. „Nun, unser Herrgott hat den Brand nicht geschickt – das wissen wir besser!“

Der junge Mann stutzte.

„Wie soll er denn sonst entstanden sein? Was meinen Sie?“

„Das können Sie freilich nicht wissen. Sie sind ja fremd hier – das sieht man. Sie gehören wohl in die Försterei?“

„Nein, ich gehöre anderswo hin,“ versetzte Paul, lächelnd über den Irrthum, den seine einfache Jagdkleidung hervorrief. Er faßte in seine Tasche, besann sich aber und hielt inne. Der Mann dort sah wohl dürftig aus, aber es lag etwas in seinem Wesen, was ein Almosen entschieden verbot, und dennoch hätte ihm Paul so gern eine Unterstützung zu Theil werden lassen, indessen er wußte sich zu helfen.

„Wenn Sie im Dorfe wohnen, so kann ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein,“ sagte er freundlich. „Ich werde mit dem Castellan des Schlosses sprechen, damit er Ihnen leichtere und lohnendere Arbeit giebt, als Sie bei den Bauern finden. In den Schloßgärten werden ja immer Leute gebraucht. Berufen Sie sich nur auf den jungen Baron Werdenfels!“

Die Augen des alten Mannes öffneten sich plötzlich weit, und seine Hände umklammerten den Bergstock, als wollten sie ihn zerbrechen.

„Auf den jungen Baron?“ wiederholte er. „Sie gehören also zu ihm – zu dem Werdenfels?“

„Gewiß,“ entgegnete Paul unbefangen. „Ich führe den gleichen Namen: der Freiherr ist mein Verwandter – aber was ist Ihnen denn?“

„Fort!“ stieß der Bauer rauh und wild hervor. „Kommen Sie mir nicht nahe! Ich will nichts von ihm und seiner Sippschaft, und wenn ich am Verhungern wäre – ich nähme kein Stück Brod von Euch. Er ist auch bei mir gewesen, damals, als er Herr auf Werdenfels wurde, und hat mir Geld geboten – vor die Füße habe ich es ihm geworfen, und wenn er nicht zur rechten Zeit gegangen wäre, ich hätte ihn niedergeschlagen, sammt seinem verdammten Almosen!“

Dieser plötzliche, unbegreifliche Ausbruch und die wuthverzerrten Züge des Mannes brachten Paul zu dem Glauben, er habe es mit einem Irrsinnigen zu thun; er griff unwillkürlich zur Flinte, sagte aber zugleich in beschwichtigendem Tone:

„Es ist ja kein Almosen, was ich Ihnen biete, nur Arbeit und Verdienst. So besinnen Sie sich doch! Wir sind uns ja ganz fremd, und ich habe Ihnen nichts zu Leide gethan.“

„Sie sind ein Werdenfels – das ist genug!“ knirschte der Bauer, dessen Wuth sich nur noch zu steigern schien. „Sagen Sie ihm – dem Freiherrn – der Eckfried ließ ihn grüßen, und er soll sich wahren, daß ihm sein Schloß nicht auch einmal lichterloh über dem Kopf brennt, wie mir mein Hof! Er soll sich nicht herauswagen aus seinem Felseneck; sonst – sonst könnte es ihm gehen, wie meinem armen Buben!“

Er schüttelte drohend die Faust, wandte sich dann um und ging, so schnell der gelähmte Fuß es ihm gestattete. Paul stand regungslos und sah ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwand. So räthselhaft jene Worte auch klangen, sinnlos waren sie nicht. Der Mann war kein Irrsinniger; er wußte offenbar ganz genau, was er sprach. Paul dachte an den seltsamen Empfang, der ihm bei dem Pfarrer Vilmut zu Theil geworden war, an die Warnung seines Onkels, sich nicht im Dorfe zu zeigen, und der geheime, furchtbare Sinn jener Drohung begann ihm langsam aufzudämmern. Aber in demselben Augenblicke, wo er den Gedanken faßte, warf er ihn auch schon weit von sich.

„Sind die Leute denn toll da unten im Dorfe?“ rief er unmuthig. „Raimund von Werdenfels, der erste Grundherr der Provinz, der Freiherr aus dem ältesten Geschlecht – und solch ein hirnloser Verdacht! Aber das kommt von den Sonderlingslaunen; das kommt davon, wenn man förmlich etwas darin sucht, den Leuten unheimlich und unbegreiflich zu erscheinen! Er hat es mir ja selbst gesagt, daß sie ihn für eine Art Hexenmeister halten; jetzt bilden sie sich im vollen Ernste ein, er habe ihnen das Unglück herangehext, und Hochwürden der Herr Pfarrer duldet und nährt vielleicht noch gar diesen Aberglauben, anstatt ihn zu bekämpfen. Sollte man glauben, daß dergleichen in unserer Zeit und in unserem Lande noch möglich ist?“

Der junge Mann machte seinem Aerger über die mangelnde Volksaufklärung nachdrücklichst Luft, während er tiefer in den Wald hineinschritt. Da gewahrte er in einiger Entfernung einen Reiter und erkannte zu seiner Ueberraschung Raimund von Werdenfels. Er wußte, daß dieser überhaupt nur sehr selten das Schloß verließ, und hatte im Marstall mit heimlicher Verwunderung den Tigerschimmel gesehen, den man ihm als das Lieblingspferd des Freiherrn bezeichnete. Das schöne, aber sehr feurige und ungeduldige Thier erforderte unbedingt einen kraftvollen, unerschrockenen Reiter, und der krankhaft müde Raimund, mit seinen weißen durchsichtigen Händen, an denen die blauen Adern so scharf hervortraten, vermochte es doch sicher nicht, den wilden Emir zu bändigen.

Emir schien indessen an seinen Herrn gewöhnt zu sein, so selten er ihn auch trug; denn er trabte ruhig dahin. Der Freiherr hatte nicht einmal einen Reitknecht bei sich; er war ganz allein, aber er saß im Sattel mit derselben müden und theilnahmlosen Haltung, mit der er daheim in seinem Sessel lehnte, und hielt die Zügel so nachlässig in der Hand, als gelte es, das frömmste Thier zu leiten. Die prächtige Winterlandschaft schien ihn nicht im Geringsten zu fesseln; er warf keinen Blick darauf und war so tief in Gedanken versunken, daß er seinen jungen Verwandten erst bemerke, als dieser dicht vor ihm stand.

„Sieh da, Paul! Bist Du auch unterwegs?“ fragte er mit flüchtigem Gruße, aber das Zusammentreffen schien ihm nicht angenehm zu sein.

„Die Sonne hat mich herausgelockt,“ entgegnete Paul. „Man war ja in den letzten Tagen wie gefangen im Schlosse bei diesem Sturm und Schneetreiben – und Du zogst Dich auch so vollständig zurück.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_138.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2023)