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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Er war im Begriffe zu gehen, aber die hellen braunen Kinderaugen, die zu ihm empor blickten, sahen ihn so mitleidig, so traurig an, daß er zu lächeln versuchte, was ihm freilich nicht gelang.

„Verzeihen Sie die flüchtige Begrüßung!“ fuhr er fort, „aber ich kann wirklich nicht länger bleiben.“

„Hat Ihnen meine Schwester wehe gethan?“ fragte Lily schüchtern.

Die Lippen des jungen Mannes zuckten schmerzlich.

„Ja wohl, sehr weh! Sie weiß es wohl selbst nicht einmal, wie sehr.“

„O ja, Anna kann bisweilen hart sein,“ bemerkte Lily leise, aber Paul schüttelte heftig den Kopf.

„Sagen Sie das nicht, sie war unendlich gütig gegen mich. Es ist ja nicht ihre Schuld, daß ich mich täuschte, aber,“ hier brach er plötzlich in leidenschaftlichen Schmerz aus, „ich ertrage es nicht, wenn mir jede Hoffnung genommen wird! Ich nehme mir das Leben!“

„Um Gottes willen!“ schrie Lily entsetzt auf. „Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Anna würde ja keine ruhige Stunde mehr im Leben haben, wenn sie an Ihrem Tode schuld wäre, und ich – ich auch nicht!“

So treuherzig die letzte Versicherung auch klang, sie machte gar keinen Eindruck auf Paul, dessen Schmerz nur noch stürmischer ausbrach.

„Was soll mir denn ein Dasein ohne Glück, ohne Hoffnung?“ rief er. „Mein Fräulein, weshalb soll ich Ihnen die Wahrheit verhehlen, die Sie ja doch schon errathen haben? Ja, ich liebe Ihre Schwester, liebe sie mit ganzer Seele, und ich kann nicht leben ohne ihren Besitz – ich erschieße mich!“

Es war gut, daß die Beiden im Schutze des Gewächshauses standen, wo sie nicht gesehen werden konnten; denn Lily begann jetzt bitterlich zu weinen und beschwor den jungen Baron in den rührendsten Ausdrücken, doch nicht so schreckliche Gedanken zu hegen. Vielleicht habe es Anna gar nicht so ernstlich gemeint; sie habe es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Wittwe zu bleiben – aber vielleicht, ja wahrscheinlich sei sie noch umzustimmen.

„Halten Sie das in der That für möglich?“ fragte Paul, dem schon wieder ein Hoffnungsschimmer aufblitzte.

„O gewiß!“ versicherte Lily, welche in ihrer Herzensangst alles nur Mögliche zugab. „Ich werde mit meiner Schwester sprechen; ich werde Ihre Verzweiflung schildern; ich werde all meinen Einfluß aufbieten – geben Sie nur diese furchtbaren Selbstmordgedanken auf!“

Paul schien vorläufig noch gar nicht geneigt dazu; er sah noch immer sehr verzweifelt aus, aber seine Stimme klang doch ruhiger, als er erwiderte:

„Ich danke Ihnen, mein Fräulein! O gewiß, Sie haben Einfluß bei Ihrer Schwester, und sie hat es mir ja selbst gesagt, daß sie keine persönliche Abneigung gegen mich hegt, daß sie sich nur nicht wieder vermählen will. Vielleicht ist dieser Entschluß noch zu erschüttern, und wenn ich auf Ihre Fürsprache, auf Ihren Beistand rechnen darf –“

„Sie dürfen es!“ versicherte Lily, indem sie ihm feierlich die Hand reichte. „Ich werde mit all meinen Kräften für Sie und Ihre Liebe eintreten.“

Der junge Mann drückte dankbar die kleine Hand, die in der seinigen lag, aber es fiel ihm nicht ein, sie an seine Lippen zu ziehen.

„Doch wie erfahre ich das Resultat Ihrer Bemühungen?“ fragte er. „Ich kann selbstverständlich nicht wieder nach Rosenberg kommen, ehe ich nicht wenigstens einen Hoffnungsschimmer habe.“

Lily dachte einige Secunden nach.

„Am nächsten Sonntag besuchen wir den Vetter Gregor in Werdenfels; können Sie nicht wieder in das Pfarrhaus kommen?“

„Nein,“ sagte Paul ernst. „Seit ich die Stellung kenne, die der Pfarrer Vilmut meinem Onkel gegenüber einnimmt, muß auch ich ihm fern bleiben. Aber Sie machen doch jedenfalls wieder einen Spaziergang in der Umgebung des Dorfes – könnten wir uns nicht wie damals am Schloßberge treffen?“

„Bei den Haselnüssen!“ fiel Lily erfreut ein. „Das ist eine sehr gute Idee! Um die Mittagsstunde bin ich dort – versprechen Sie mir nur, sich bis dahin nicht zu erschießen!“

„Ich werde noch etwas damit warten,“ erklärte Paul. „Vielleicht ist noch nicht alles verloren.“

Er drückte noch einmal die Hand seiner neuen Bundesgenossin und ging dann zu seinem Wagen. Als er fortgefahren war, kehrte Lily in das Haus zurück, ganz erhoben und erfüllt von ihrer Mission. Sie kam sich auf einmal so wichtig vor, als eine Person, auf deren Einfluß man rechnete und deren energisches Eingreifen einen Menschen vom Selbstmord zurückgehalten hatte. Sie zweifelte auch nicht mehr, daß ihre Schwester sich erweichen lassen werde; der junge Baron wollte sich ja erschießen, wenn sie bei ihrem Nein blieb; aber es war doch seltsam, welch eine zauberhafte Macht Anna über die Männer ausübte, daß sie sich alle ohne Ausnahme in sie verliebten. Zwei Heirathsanträge hatte sie an einem Vormittage erhalten und wußte nichts Anderes damit anzufangen, als sie beide abzulehnen. Lily fand, daß ebenso wie die Güter der Erde auch die Heirathsanträge ungleich vertheilt seien; einer davon hätte ihr, der jüngeren Schwester, doch auch zufallen können – „natürlich der zweite!“ setzte sie in Gedanken hinzu.




Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages, als Raimund von Werdenfels an dem Fenster seines Arbeitszimmers stand. Der Wintertag war soeben erst angebrochen, aber ohne Sonnenschein; der „Sturmprophet“, die Geisterspitze, zeigte sich trotz des düsteren Himmels in klaren, scharfen Umrissen und in unheimlicher Nähe; auch das Gewölk ringsum verkündete Sturm. Werdenfels sah wieder zu jenem weißen Gipfel empor, aber nicht mit der gewohnten müden Träumerei; in seinem Blicke lag heute etwas Finsteres, Unruhiges, und dieselbe Unruhe verrieth sich in seinen Bewegungen, als er jetzt mit verschränkten Armen einen Gang durch das Zimmer machte, dann an den Tisch trat und auf die Klingel drückte.

„Ich lasse Herrn von Werdenfels bitten, zu mir zu kommen,“ rief er dem eintretenden Kammerdiener zu; dieser wollte sich entfernen, um den Auftrag auszurichten, und war schon an der Thür, als der Freiherr die Frage hinwarf:

„Mein Neffe war ja wohl gestern in Buchdorf?“

„Nein, gnädiger Herr. So viel ich weiß, ist der junge Herr Baron nach Rosenberg gefahren. Wenigstens wurde der Wagen dorthin beordert.“

Raimund erwiderte nichts, sondern gab dem Diener einen Wink, sich zu entfernen.

„Ich dachte es mir!“ murmelte er. „Er hat keinen Tag verlieren wollen!“

Schon nach zehn Minuten trat Paul in das Zimmer. Er mochte in der Nacht nicht viel geschlafen haben; denn er sah blaß und überwacht aus und bemühte sich vergebens, in Ton und Haltung die alte Unbefangenheit zu zeigen. Es lag wie ein trüber, schwerer Druck auf seinem ganzen Wesen. Man sah es deutlich, das Nein, das er gestern erhalten, war dem jungen Manne tief zu Herzen gegangen.

Auch Raimund sah diese Veränderung, aber er bedurfte keine Erklärung dafür, und seine Stimme klang ungewöhnlich milde, als er fragte:

„Hat mein Ruf Dich gestört, Paul? Es ist noch früh am Tage.“

„O nein, ich war schon angekleidet,“ entgegnete Paul, „aber ich war überrascht, zu hören, daß Du bereits wach seist. Du pflegst ja sonst in den Vormittagsstunden den Schlaf nachzuholen, den Du in der Nacht versäumst.“

„Ja, diese Nachtwachen sind eine leidige Gewohnheit meiner Einsamkeit,“ sagte Werdenfels. „Ich fühle doch, daß sie auf die Dauer entnerven, und habe in den letzten Tagen versucht, dagegen anzukämpfen.“

Paul sah seinen Onkel verwundert an; es war das erste Mal, daß dieser die Absicht kundgab, gegen irgend etwas anzukämpfen. Bisher hatte er sich nur passiv seinen Launen und Träumereien überlassen. Aber der junge Mann fühlte schon nach den ersten Worten, daß jene seltsame Gereiztheit des Freiherrn gegen ihn vollständig geschwunden war. Raimund zeigte wieder die alte Güte, nur war er nicht ganz so kalt und gleichgültig wie sonst, und es lag sogar ein Anschein von Interesse in der Art, mit der er sich nach Buchdorf erkundigte und nach dem Eindruck, den es auf seinen nunmehrigen Herrn gemacht hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_171.jpg&oldid=- (Version vom 25.12.2023)