Seite:Die Gartenlaube (1883) 255.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

nach Rosenberg und erzählt Dir mündlich von seinem schönen Buchdorf.“

Lily verstand die letzten Worte nicht, sie war ja felsenfest überzeugt, daß Paul einzig und allein ihre Schwester liebe, aber sie schlang mit der ganzen stürmischen Freude eines Kindes ihre Arme um den Hals der jungen Frau und flog dann mit ihrem Briefe davon, um sich schleunigst an den Schreibtisch zu setzen. Das Veilchenbouquet, das zu Boden gefallen war, lag unbeachtet auf dem Teppiche, das junge Mädchen hatte jetzt andere Dinge im Kopfe, als den Antrag des Onkel Justizrath.

Anna Hertenstein sah dem glücklichen Kinde nach, und um ihre Lippen zuckte ein Ausdruck schmerzlicher Wehmuth, als sie leise sagte:

„Nein, es wäre ein Unrecht, diese aufkeimende Neigung zu hindern. Vielleicht ist meiner Lily das Glück beschieden, das mir versagt wurde – mit einem Werdenfels!“




Wieder waren Wochen vergangen. Der Winter herrschte noch immer mit unverminderter Strenge, obgleich der März schon begonnen hatte; er lastete diesmal schwer und hart auf Werdenfels und dessen ganzer Umgebung. Es waren schlimme Krankheiten im Dorfe ausgebrochen, die Manchen dahinrafften und Noth und Elend im Gefolge hatten, aber auch für die Gesunden fehlte es an Verdienst und Arbeit. Dazu zeigte sich das Unheilsgespenst der Umgegend, die Eisjungfrau, unheilbringender als je. Die Stürme, welche von der Geisterspitze niederwehten, waren nie so heftig und verderblich gewesen. Eine Waldung, die der Gemeinde gehörte und deren Hauptvermögen bildete, wurde durch einen jener Stürme verwüstet und zur Hälfte niedergebrochen, die einzelnstehenden Gehöfte wurden schwer beschädigt, es kamen sogar Menschen in jenen Schneewehen um – kurz, es war ein Unglückswinter für Werdenfels.

Das Dorf hatte freilich eine zuverlässige Stütze an seinem Pfarrer, der überall helfend und ermuthigend eintrat. So weit sein Pfarrbezirk reichte, so weit reichte auch seine Hand und sein Auge. Kein Weg war ihm zu weit, kein Opfer zu schwer, und mit Wort und Beispiel wußte er auch die Wohlhabenderen zu solchen Opfern anzutreiben. Aber das Alles reichte nicht aus, der immer steigenden Noth gegenüber, und der Eine, dessen Hülfe ebenso unbeschränkt gewesen wäre, als seine Mittel zu helfen, war ja förmlich in den Bann gethan worden, sodaß Niemand wagte, etwas von ihm anzunehmen.

Raimund von Werdenfels hatte in der That nach jener letzten tiefbeleidigenden Zurückweisung die ferneren Annäherungsversuche aufgegeben, aber gewichen war er jenem Banne nicht. Er blieb in Werdenfels und bot der Feindseligkeit Trotz, die sich immer drohender gegen ihn erhob, je mehr sie durch den alten Aberglauben genährt wurde. Es war ja Friede und Gedeihen gewesen im Orte jahrelang, aber seit der Felsenecker von seinem Bergschlosse gekommen war, folgte Unglück auf Unglück. Mit jenem Sturme, der seine Ankunft begleitete, hatte es begonnen, und es wich auch nicht wieder, so lange er im Schlosse war. Er hatte ja schon einmal dem Dorfe Verderben gebracht.

Den Glauben theilte ganz Werdenfels vom reichsten Bauer bis zum ärmsten Tagelöhner. Sie hatten den Gutsheren gehaßt, als er es versuchte, ihnen Wohlthaten zu erweisen; jetzt, wo er ihnen in finsterer Zurückhaltung gegenüberstand, haßten sie ihn noch mehr. Die ganze Ungerechtigkeit der Armuth und des Aberglaubens wendete sich gegen ihn, bei jedem neuen Schicksalsschlage richteten sich alle Augen nach dem Schlosse, als sei dort allein die Quelle des Unheils zu suchen.

Es war allerdings Grund genug zu einer niedergedrückten Stimmung vorhanden; denn auch die Reise des Pfarrers nach der Residenz hatte nicht den erwarteten Erfolg gehabt, er hatte seinen Pfarrkindern nicht die Gewährung mitgebracht, auf die sie so sicher rechneten. Vilmut lernte in der That die endlosen Schwierigkeiten kennen, die man ihm prophezeit hatte, und er, dessen Einfluß und Wille in seinem Dorfe allmächtig waren, mußte die Erfahrung machen, daß er bei den Behörden wie jeder andere Bittsteller behandelt wurde. Selbst die Verwendung des Erzbischofes erwies sich als machtlos; denn man hatte an maßgebender Stelle bereits das Anerbieten des Freiherrn von Werdenfels und dessen Ablehnung erfahren. Vilmut mußte es mehr als einmal hören, wenn die Gemeinde reich genug sei, um ein derartiges Geschenk zurückzuweisen, so könne sie auch die Dammbauten auf eigene Kosten ausführen, die Hülfe des Staates sei für ärmere Ortschaften da. Es war nicht abzuleugnen, daß jene Zurückweisung einen höchst nachtheiligen Einfluß auf die schon so lange schwebenden diesbezüglichen Verhandlungen ausübte. Die Entscheidung wurde hinausgeschoben, die schon theilweise gegebenen Zusagen wieder zurückgenommen; Vilmut erreichte nichts als das Versprechen, daß die Angelegenheit nochmals in Erwägung gezogen werden solle. Damit aber wurde sie auf unbestimmte Zeit vertagt, von einer Beschleunigung war keine Rede.

Auch Frau von Hertenstein, deren Landgut gleichfalls zum Pfarrbezirk von Werdenfels gehörte, trat mit aller Energie für die Linderung der allgemeinen Noth ein. Sie war die Erste, welche dem Beispiele ihres Vetters folgte, und stand überall muthig und helfend an seiner Seite. Erst jetzt zeigte es sich deutlich, wie ähnlich die beiden Charaktere einander waren, kalt und hart, sobald es sich um die weicheren Empfindungen des Menschenherzens handelte, aber, sobald ihre Thatkraft herausgefordert wurde, von einer wahrhaft bewundernswerthen Aufopferung und Hingebung im Dienste der Menschenliebe. Es war nur natürlich, daß die Verehrung, welche der Pfarrer allgemein genoß, sich jetzt auch zum Theil auf die junge Frau übertrug, und Gregor, der sonst alles nur beherrschte, gestand ihr allein den Platz an seiner Seite zu.

Eines Tages war Anna mit ihrer Schwester wieder von Rosenberg herübergekommen und beide befanden sich mit Vilmut in dessen Wohnzimmer. Es wurde soeben über eine Unterstützung debattirt, die geschafft werden mußte und mit den vorhandenen Mitteln doch nicht zu schaffen war. Lily, die sich nie an solchen Gesprächen betheiligte, und der man auch nicht erlaubt hätte, sich darein zu mischen, stand am Fenster und sah hinaus; plötzlich aber wurde ihr ganzes Gesicht wie mit einer Rosengluth übergossen, während sie einen Gruß erwiderte, der von draußen gespendet wurde, und sich umwendend, sagte sie mit stockender Stimme:

„Gregor, ich glaube – ich glaube, Du erhältst Besuch – der junge Baron Werdenfels tritt soeben in das Pfarrhaus.“

„Paul Werdenfels? Unmöglich!“ rief Vilmut; aber Lily’s Augen hatten sie nicht getäuscht. Man vernahm bereits draußen im Hausflur die Stimme Paul’s, der nach Seiner Hochwürden fragte und von der Magd in das Studirzimmer gewiesen wurde, wo der Pfarrer fremde Besuche empfing.

„Was kann er wollen?“ fragte Gregor, indem er sich erhob. „Ich dächte, zwischen dem Schlosse und dem Pfarrhause gäbe es nichts mehr zu verhandeln, aber gleichviel, ich muß hören, was er mir bringt. Du bleibst doch, Anna, bis ich zurückkehre?“

Die junge Frau bejahte schweigend, mit einem Neigen des Hauptes, und Vilmut ging. Er schloß zwar die Thür des Studirzimmers, das von dem Wohnzimmer nur durch ein kleines Zwischengemach getrennt war, aber die zweite Verbindungsthür blieb offen, und wenn auch anfangs nichts von dem Gespräche zu verstehen war, das dort drüben geführt wurde, so erhoben sich die Stimmen der beiden Männer doch bald so laut und erregt, daß man jedes Wort vernehmen konnte.

Paul stand bereits im Studirzimmer, als der Pfarrer eintrat, und begrüßte diesen mit einer sehr kühlen und gemessenen Verbeugung.

„Sie werden erstaunt sein, Hochwürden, mich hier zu sehen,“ begann er. „Es ist jedoch etwas Außergewöhnliches, das mich zu Ihnen führt.“

„Das setzte ich voraus,“ erwiderte Vilmut, ebenso kühl und gemessen, indem er dem Gaste Platz anbot, aber Paul schien das nicht zu bemerken, sondern blieb stehen, während er fortfuhr:

„Mein Onkel weiß nichts von diesem Besuche. Er würde mir schwerlich gestattet haben, die Schwelle des Pfarrhauses zu überschreiten, und ich gestehe, daß mir das schwer geworden ist unter den obwaltenden Umständen. Es sind jedoch Dinge vorgefallen, die mich zwingen, einmal offen mit Euer Hochwürden zu reden. Ich komme, Sie zu mahnen, daß Sie endlich ein Wort des Friedens sprechen in diesem Streite zwischen den Bewohnern

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_255.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)