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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

communistischcn Tendenzen ganz und gar nicht die Rede; Arme und Reiche wird es immer geben, denn das liegt eben wieder in der göttlichen Weltordnung; aber die werkthätige Nächstenliebe ist jedenfalls die erste aller menschlichen Tugenden.

Ein Beispiel, das gottlob nicht allein steht, wenn es auch in dieser Bedeutung zu den Seltenheiten gehört. Ein reicher Mann, ein „zwölffacher Millionär“, ist im vorigen Jahre an den Rhein gezogen, wo er sich am Fuße des Drachenfelsen ein prächtiges Schloß baut. Dadurch finden hunderte und mittelbar tausende von Arbeitern aller Art lohnende Beschäftigung, Dadurch ist die Ankunft dieses Millionärs ein Segen für die ganze Umgegend geworden. Aber dieser Ehrenmann (es ist der Baron Sarter) macht auch einen noch nobleren Gebrauch von seinem Gelde. Er hat nämlich ein warmes Herz für die Armen, und als er die grauenhaften Schilderungen von der Hungersnoth in der Eifel gelesen, trifft er sofort Anstalt, den am schlimmsten betroffenen Gemeinden zweitausend Centner Kartoffeln (die Hälfte zur Frühjahrssaat) anzuweisen. Anfangs fürchtete man, die Berichterstatter hätten in der Freude eine Null zu viel gemacht; aber nein, es sind wirklich volle zweitausend Centner und noch dazu bester Qualität … eine fürstliche Gabe!

Damit sind viele Tausende satt zu machen, und ihr Dank könnte diesem edlen Menschenfreunde dermaleinst die letzte Stunde sehr erleichtern, obwohl wir ihm ein langes, langes Leben wünschen, damit er noch recht, recht viel Gutes thun kann.

Wir sagten eben viele Tausende, und dies ist wörtlich zu nehmen, denn nach einer oberflächlichen Schätzung waren schon um die Mitte des Märzmonats zwischen 16000 bis 18000 Menschen von allen Nahrungsmitteln so gut wie ganz entblößt und auf die öffentliche und private Mildthätigkeit angewiesen. Und das in der Eifel, einem Lande, wo diejenigen reich genannt werden, die für sich selbst ihr bescheidenes Auskommen haben und nicht zu darben brauchen. Wie wären die im Stande, auch mit dem besten Willen ihren unglücklichen Mitbrüdern erfolgreich zu helfen?

Sehr charakteristisch ist ferner der Umstand, daß alle Berichte und Schilderungen aus den so schwer heimgesuchten Bezirken fast ganz gleichmäßig lauten; immer ein und dasselbe in wahrhaft erschütternder Uebereinstimmung.

„Die hungernden Kinder ziehen schaarenweise bettelnd von Dorf zu Dorf durch den tiefen Schnee und bei sechs, sieben und mehr Grad Kälte, glücklich, wenn sie noch heile Holzpantoffeln an den nackten Füßen haben, denn anderes Schuhwerk tragen sie niemals, und dabei pfeift der eisige Wind durch ihre dünnen, zerlumpten Kleider, daß oft mehrere von ihnen vor einem Bauernhause, wo sie auf ein Stück Brod hoffen, dicht neben einander niederkauern, um sich gegenseitig zu erwärmen. Die Männer gehen wohl auf Arbeit aus, finden aber selten welche, denn es giebt nichts zu thun und also auch keinen Verdienst. Die Frauen bleiben daheim in den kahlen, unwirthlichen Stätten und beschwichtigen die kleinsten Kinder, die vor Hunger weinen und die doch noch einige Stunden warten müssen, bis die Suppenanstalt im Gemeindehause geöffnet wird, wo sie endlich etwas Warmes zu essen bekommen. Und auch dort werden einer jeden Familie, wenn sie auch aus noch so viel Köpfen besteht, nur zwei oder allerhöchstens drei ängstlich bemessene Portionen verabfolgt, denn die Geber sind in ihren Mitteln sehr beschränkt, und morgen ist wieder ein Tag, und die Zahl der Armen wächst noch fortwährend in wahrhaft bedrohlicher Weise. Ob sie am Abend wiederkommen dürfen, um sich noch eine Portion zu holen, fragen Viele, und es thut bitter weh, ihnen eine verneinende Antwort zu geben, aber es geht leider nicht anders.“

So schreibt ein Pastor aus einem Dorfe bei Prüm und fügt, indem er um milde Gaben bittet, naiv hinzu, er selbst habe auch nichts mehr, denn das Wenige, was er besessen, habe er längst hergegeben.

„Wir hungern und frieren,“ schreibt man aus Auw bei Manderfeld, „und wissen uns schier gar nicht mehr zu helfen. Wir bewohnen den kältesten und unfruchtbarstcn Theil der Eifel, und eine gute Ernte haben wir seit langen Jahren nicht mehr gehabt. In unserem Dorfe und in den umliegenden Dörfern mit etwa 1200 bis 1300 Seelen giebt es keine zehn Familien, die täglich, wenn auch nur einmal, sich in Kartoffeln satt essen können. Hafer und Buchweizen konnten im vorigen nassen Herbst nicht eingeheimst werden, und als es endlich doch geschehen mußte, um nur etwas zu retten, war das Korn ausgewachsen, und das davon gebackene Brod ist so gut wie ungenießbar. Gegessen muß es trotzdem werden, aber die Leute, namentlich die Kinder, werden krank davon. Es ist ein unbeschreibliches Elend. Und was mag uns noch für die Zukunft beschieden sein, denn wir haben kein Saatkorn und keine Saatkartoffeln, und dazu ist der Winter auf einmal mit verdoppelter Gewalt wiedergekommen.“

In ähnlicher Weise lauten alle Berichte und stets mit demselben entsetzlichen Refrain: uns hungert und friert. In einem Dorfe des Bezirks St. Vith wurden eines Morgens über dreißig Kinder bald nach ihrer Ankunft im Schulhause von Schwindel und Kopfschmerzen ergriffen, und zwar einfach aus Entkräftung, denn sie hatten den einstündigen Weg durch Schnee und Nordwind nüchtern zurückgelegt. Manche waren im Schulzimmer buchstäblich umgefallen, viele wurden später ernstlich krank und drei von ihnen sollen bald darauf gestorben sein. Ueberhaupt räumt der Tod in diesem Jahre gewaltig unter den Kindern der Eifeldörfer auf, und auch sonst ist die Sterblichkeit dort größer als in normalen Verhältnissen.

Gethan wird allerdings viel und von allen Seiten zur Linderung der Noth; zunächst in den Rheinlanden selbst, wo in allen Städten, großen und kleinen, Sammelstellen errichtet sind, um die Geldbeiträge und sonstigen Gaben an Kleidungsstücken, wollenen Decken und Nahrungsmitteln entgegen zu nehmen. Ganz wie vor einigen Monaten zur Zeit der Überschwemmung. Und dabei fragt es sich sehr, ob die augenblickliche Noth in der Eifel, wenn auch örtlich auf einen geringeren Umfang beschränkt, nicht noch schrecklicher und noch dringender hülfeheischend ist, als jene. Gehungert haben doch die von der Ueberschwemmung Heimgesuchten wenigstens nicht, und ausgiebige Hülfe und Unterstützung waren damals so rasch und in so umfassendem Maße zur Stelle, daß schon nach wenigen Wochen der schlimmsten Noth gesteuert war.

Auch für die weiterreichenden Folgen der schrecklichen Wasserkatastrophe ist durch bedeutende Summen und durch staatliche Beihülfe ausreichend gesorgt; jene Summen sind sogar, namentlich durch die aus Amerika und England eingegangenen Gelder, zu einer solchen Höhe angewachsen, daß die Provinziallandtage von Rheinland und Westfalen schon einen beträchtlichen Theil davon für die Eifel in Aussicht genommen haben, was man hoffentlich höheren Orts gutheißen wird, denn die armen Eifeler sind ja ein Brudervolk.

Und sind wir das nicht längst Alle in Deutschland, vollends jetzt nach der glorreichen Einigung aller Stämme, mit dem schönen Wahlspruch, der an jenem denkwürdigen Januartage in Versailles ausgerufen wurde:

„… Ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

So werden wir auch diesmal hoffentlich nicht vergebens bitten; das thut ohnehin die „Gartenlaube“ nie, denn sie kommt ja in viele hunderttausend Hände, überall wo deutsche Herzen schlagen, und alle diese Herzen (dies hat sich ja schon unzählige Male bestätigt!), wie sie theilnehmen an den freudigen und ruhmvollen Ereignissen im Vaterlande, so haben sie sich auch für die Leiden und die Noth der Landsleute ein warmes Mitgefühl bewahrt.

Und gerade jetzt, wo der sehnlich erwartete Lenz endlich, endlich seinen triumphirenden Einzug hält mit Blättergrün und Wiesenblumen und den Winter besiegt und vertrieben hat, öffnen sich die Herzen der Menschen ja noch mehr dem Mitleid und der Nächstenliebe … ach! in der armen Eifel dauert der Winter noch länger und wir müssen ihn walten lassen mit seinem Schnee und seinen eisigen Winden; aber den anderen noch schrecklicheren Winter des Hungers und des Elends, dem die arme Bevölkerung fast zu erliegen droht, den können wir bekämpfen und bannen durch hülfreichen Beistand, und so den Schwerbedrängten schon vor der Zeit einen erlösenden Frühlingsgruß bringen.


manicula0 Unter Hinweis auf den obigen Artikel: „Die Hungersnoth in der Eifel“ eröffnen wir eine Sammelstelle für die schwergeprüften Nothleidenden, und bitten unsere Leser und Freunde, ihre Liebesgaben schleunigst an die Adresse der Verlagshandlung Ernst Keil in Leipzig senden zu wollen. Die Redaction. 



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_260.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)