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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Zufällig befand sich auch Emma Hofer bei ihren Eltern. Sie war gestern gekommen, um einige Tage auf der Försterei zuzubringen, wie dies öfter geschah, diesmal aber hatte sie Frau von Hertenstein begleitet. Der Förster und seine Frau waren ebenso erfreut als überrascht über diesen Besuch, denn wenn ihre Tochter auch Lily bisweilen mitbrachte, die junge Frau hatte noch niemals das Forsthaus betreten, das im Umkreise von Felseneck lag. Sie nahm auch diesmal die ihr herzlich gebotene Gastfreundschaft nur für einen Tag an und beabsichtigte schon am nächsten wieder nach Rosenberg zurückzukehren.

Der Freiherr wurde um die Mittagsstunde erwartet, da er erst nach Felseneck fuhr und von dort herüber kam. Der Förster mit seinem ganzen Personal war in voller Gala zum Empfange bereit, während sich seine Frau und Tochter unten im Wohnzimmer befanden, um den vielbesprochenen Raimund von Werdenfels zu sehen. Sie kannten ihn freilich von früheren Zeiten her, wo er oft in der Försterei gewesen war, aber das war vor langen Jahren gewesen, und in Felseneck war er ihnen ebenso unsichtbar geblieben, wie jedem Anderen.

Am Fenster des Gastzimmers, das im oberen Stock lag, lehnte Anna von Hertenstein ganz allein und sah in den beschneiten Wald hinaus. Die mühsam verhaltene Aufregung der jungen Frau ließ ahnen, daß ihr Hiersein gerade an dem heutigen Tage kein bloßer Zufall war. Bald verließ sie ihren Platz, um in heftiger Unruhe das Zimmer zu durchschreiten, bald trat sie wieder an das Fenster und blickte auf den Fahrweg, der zum Forsthause führte.

Sie hatte Raimund nicht wieder gesehen seit jener Stunde auf der Bergwiese, und seitdem waren Monate vergangen. Sie sah noch das bleiche, müde Antlitz, die Augen voll finsterer Träumerei, die matte, halb gebrochene Gestalt des Mannes, der längst mit dem Leben abgeschlossen hatte, und der nur in Momenten der äußersten Erregung noch fieberhaft aufflammte, um dann wieder zusammen zu sinken. So war er damals gewesen, was mochte jetzt aus ihm geworden sein, nachdem er all die Bitterkeiten gekostet hatte, die man ihm in Werdenfels bereitete; dem Kampfe war selbst eine frische ungebrochene Kraft nicht gewachsen, er mußte ihm erliegen.

Da endlich ertönte in der Ferne das Geläut des Schlittens, und bald darauf fuhr dieser am Forsthause vor. Es war ein rauher, trüber Wintertag, und der Wind wehte mit schneidender Schärfe, trotzdem kam Raimund im offenen Schlitten, und er trug nicht einmal den Pelz zum Schutz gegen die Witterung, sondern nur einen einfachen Mantel, ebenso wie Paul, der neben ihm saß. Der Letztere stieg zuerst aus und wollte seinem Onkel behilflich sein, aber Werdenfels schien das nicht zu bemerken, und die rasche Bewegung, mit der er sich aus dem Schlitten schwang, hatte beinahe etwas Jugendliches. Auch seine krankhafte Scheu vor den Menschen schien sich gemindert zu haben, er runzelte nicht einmal die Stirn, als er die sämmtlichen Forstleute zu seinem Empfange versammelt fand. Ruhig, ohne Stolz und ohne Herablassung erwiderte er die Begrüßung, und als er mit dem Förster sprach, da sah man deutlich, daß auch das Schlaffe, Matte aus seiner Haltung verschwunden war, er überragte sogar die jugendlich schlanke Gestalt Paul’s, der hinter ihm stand.

Anna hielt sich verborgen hinter dem Fenstervorhang, und auch ihr fiel jene Veränderung auf. Was war das? Hatte Raimund in dem Kampfe, wo sie ihn unterliegend wähnte, die so lange verlorene Energie wiedergefunden? Fast schien es so!

Der Förster geleitete jetzt die beiden Herren in das Haus, dessen Besichtigung sofort begann. Zuerst wurden die unteren Räume in Augenschein genommen, dann kamen die oberen an die Reihe, und jetzt klang die Stimme des Freiherrn dicht vor der Thür des Gastzimmers.

„Nein, Hofer, von einem Umbau kann keine Rede sein, das Haus ist zu baufällig. Sie bleiben einstweilen hier, bis das neue Forsthaus fertig ist, das drüben an der Waldseite stehen soll, dann wird das alte Gebäude niedergerissen. Der Baumeister soll mir schon in der nächsten Woche die Pläne vorlegen, damit die Arbeit bald beginnen kann.“

Der Förster erging sich in lebhaften Dankesäußerungen, Werdenfels achtete nicht darauf, er musterte die Thüren zu beiden Seiten des Hausflurs, als eine dieser Thüren sich öffnete und Frau von Hertenstein auf der Schwelle erschien.

(Fortsetzung folgt.)




Zur Naturgeschichte des Wilderers.

Vom Großvater bis zum Enkel – drei Generationen in ihrem verbrecherischen Handwerk zeigt uns unser lebensfrisches und – wahres Bild!

Mit dem Hirsch hat es ihnen geglückt: der Alte stellte sich auf dem Wechsel vor, die beiden Begleiter trieben ihm den Hirsch langsam zu; noch einige Minuten, dann ist derselbe aufgebrochen und zum heimlichen Transport fertig gemacht. Plötzlich stutzt der Wache haltende Alte; sein feines Gehör hat ihn nicht getäuscht, des Försters Hund tritt auf die Blöße und windet nach dem Schweiß des aufgebrochenen Wildes; da muß auch sein Herr in der Nähe sein – darum fertig den Stutzen und den Finger am Abzuge! Der Andere hält das Messer fest gepackt zum Stoß, und nur der Junge ist noch grün im Geschäft und sucht ängstlich beim Alten Schutz.

Klebt nicht ein ganzes Stück Romantik an dem alten wetterfesten Kerl und seinem trotzigen Thun? Gewiß, gerade soviel wie an einem „Rinaldo Rinaldini“, „Baierischem Hiesel“ und ähnlichem besungenem Ungeziefer; aber das waren ja Räuber und Mörder!

Nun, und der Alte hier?! Wozu schlägt er denn mit dem Stutzen an? Etwa nur, um dem Förster einen guten Morgen zu bieten?!

Gerade diese romantischen Darstellungen und Schilderungen sind es, welche das große Publicum über die wahre Wesentlichkeit, die „Naturgeschichte“ des Wilderers täuschen und nicht selten sogar eine gewisse Sympathie hervorrufen; auch die malerische Gebirgstracht und das charakteristisch geschnittene Gesicht des Bergbewohners muß herhalten, denn noch nie sah ich einen Wilddieb „aus dem Osten“ mit langem Kittel und entsprechendem Gesichtstypus zu belletristischen Zwecken abgebildet; mit solchem ist kein Staat zu machen, er fesselt nicht und verdirbt den Effect, die ungeschminkte Thatsache tritt zu grell an ihm hervor – höchstens könnte er das Lied vom „armen Mann“ illustriren, dem die Noth und Verzweiflung, sich und den Seinen das Leben zu fristen, das Schießgewehr in die Hand drängen, während der Andere die Sippe derer vertritt, welchen eine angeborene Jagdpassion keine Ruhe läßt, dem das Schweifen durch Wald und Flur Lebenselement ist und dem schließlich, wenn er seiner Leidenschaft zum Opfer gefallen ist, ein gewisses Mitleid wie einem tragischen Helden folgt.

„Wie kann man so hart mit einem Mitmenschen verfahren, der sich doch nur an Thieren vergriffen hat, die der liebe Gott für Alle schuf? wie darf man ein Menschenleben gegen das eines Hirsches bedrohen oder gar nehmen?!“

Wahrlich zu Thränen könnten Einen solche humanistische Ergüsse rühren und den pflichttreuen Forst- und Jagdbeamten zu einem wahren Scheusal stempeln, wenn die Sache eben so wäre; aber sie ist nicht so, und wir hoffen mit Folgendem den Beweis dafür zu erbringen.

Gewiß giebt es in der großen Schaar der Wilderer hin und wieder Einen, welcher, sonst unbescholten, von der bittersten Noth gedrängt, sich ein Stück Wild zueignet, um den Hunger zu stillen, oder welcher der Jagdlust nicht widerstehen kann, wenn sich ihm eine günstige Gelegenheit bietet; die Vertreter dieser beiden Classen von Wilddieben sind Gelegenheitsdiebe und weder dem Wildstande noch dem Beamten ernstlich gefährlich, sie weichen dem Letzteren geflissentlich aus, und es giebt Beispiele, daß solche vom Jagdteufel besessene Individuen, wenn und so lange die Möglichkeit mit ihnen anzuknüpfen vorhanden war, zu retten waren. – So erinnere ich mich eines durch seine Jagdleidenschaft gänzlich heruntergekommenen Müllers, welchem man gleichwohl eine gewisse Ehrenhaftigkeit nicht absprechen konnte; er hatte nachweislich ein Mutterwild geschossen, sich den Beamten nicht ernstlich widersetzt und bei diesen dadurch eine gewisse Sympathie erregt, welche schließlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_272.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)