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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

zu dem Verein zu gehören. Auch macht man schon die Erfahrung, daß Herrschaften wie Arbeitgeber vorzugsweise gern solche Mädchen engagiren, welche ihr Vereinsbüchelchen vorzeigen können.

Dieses Büchelchen, das mir eben vorliegt, ist ein nett cartonnirtes kleines Heft, mit der Devise des Vereins: Bear ye one another’s burden (Traget Einer des Andern Last.) Außer dem Namen und der Adresse des betreffenden Mitglieds enthält es die Regeln des Vereins, die Quittungen für die der „Freundin“ geleisteten Beitragszahlungen und, was mir am wichtigsten scheint, eine Liste von Logir- und Heimathhäusern in allen größeren Städten Englands, wo die Mädchen, bei einem etwaigen Wechsel ihres Aufenthaltes, sicher sind, eine gute Unterkunft zu finden. Diese Liste ist gewiß von außerordentlichem Werth, denn man weiß, welchen Gefahren alleinstehende junge Mädchen ausgesetzt sind , wenn sie eine fremde Stadt betreten, nicht wissend, wohin sie sich wenden sollen. Solche „Heimathhäuser“ sind in vielen Orten von dem Verein selbst gegründet worden; in anderen stehen sie doch mit ihm in Verbindung.

Außerdem erhalten die Mädchen beim Verlassen eines Ortes von ihrer „Freundin“ eine Empfehlung an den Vorstand eines anderen Zweigvereins. Denn es existirt in Großbritannien schon jetzt, nach noch nicht siebenjährigem Bestehen des Vereins, kaum ein Ort, der nicht einen Zweigverein aufzuweisen hätte. Dreitausend Gemeinden gehören ihm an; die Zahl seiner Mitglieder beträgt circa 50,000, während 15,000 Damen als Associates, als „Freundinnen“ der Mitglieder fungiren.

Aber freilich, die besten Kreise des Landes interessiren sich auch dafür. Der Verein steht unter dem Protectorate der Königin, und die Erzbischöfe von Canterbury und York sind seine Präsidenten, während die vornehmsten Namen des Reichs in der Liste der Associates figuriren. Natürlich entsprechen dem auch die Mittel des Vereins, denn wenige Damen werden sich wohl begnügen, den als Minimum festgesetzten Jahresbeitrag von 21/2 Schilling (21/2 Mark) zu entrichten. Indessen ergiebt dieser geringe Beitrag von den 15,000 Damen schon die Summe von 37,500 Mark, die mit den 50,000 Mark Beiträgen der Mitglieder immerhin eine ganz beträchtliche Jahreseinnahme bilden.

Diese Mittel des Vereins dienen verschiedenen Zwecken. Zuerst, wie schon erwähnt, der Einrichtung von Heimathhäusern für stellenlose Mitglieder; ferner der Gründung von Abendschulen, in denen hauptsächlich Bibel- und Nähunterricht ertheilt wird; sodann der Unterstützung der Mädchen in Krankheitsfällen; auch wird eine Bibliothek davon beschafft, welche den Mitgliedern passende Lectüre liefert, sowie zwei Journale, von denen eins unter den „Freundinnen“, das andere unter den Mädchen circulirt, und schließlich bestreitet der Verein von jenen Beiträgen die nicht unbedeutenden Kosten der Zusammenkünfte jener schon erwähnten Theenachmittage, sowie der Feste, welche die Angehörigen des Vereins einmal alljährlich in jedem größeren Bezirk versammeln.

Einem solchen Feste, das in Chester stattfand, wohnte ich kürzlich bei. Einladungskarten für den 29. Juni waren an alle Vereinsangehörige innerhalb der Grafschaft Cheshire erlassen worden, und die Eisenbahndirectionen hatten sich freundlichst bereit erklärt, die Gäste für etwa den vierten Theil des gewöhnlichen Fahrgeldes zu befördern.

Ich hatte von der Vorsitzenden des Zweigvereins von Altrincham (bei Manchester), wo ich mich damals befand, eine Einladung erhalten und stellte mich pünktlich um halb ein Uhr auf dem Bahnhofe ein. Meine Wirthin, Mrs. S., die Gattin eines dortigen Geistlichen, war schon anwesend; begleitet von drei oder vier Damen des Vereins, und nicht weit von ihnen, auf den möglichst kleinen Raum zusammengedrängt, standen einige zwanzig junge Mädchen in ihrem besten Sonntagsstaat. Da wir eine Weile zu warten hatten, fingen sie hier schon an, sich an den buns (Rosinenbrödchen) und Apfelsinen zu erlaben, die Mrs. S. in großen Quantitäten bei sich führte.

Endlich brauste der Zug heran; eine Menge Mädchenköpfe streckten sich aus den Waggons dritter Classe hervor (denn wir bedienten uns alle dieser wenig aristokratischen Beförderungsmittel, die eine Lady sonst nie betritt, obgleich sie in ihrer Ausstattung jetzt weit besser sind, als bei uns) und eiligst suchte unsere kleine Heerde zu ihren Colleginnen drinnen zu gelangen oder doch unter sich zu bleiben. Einige indeß mußten doch mit in unseren Wagen kommen, wo sie anfangs sehr steif und still saßen – sie zogen rasch ihre Handschuhe an, die sonst wohl erst in Chester zum Vorschein gekommen wären – mit der Zeit aber, während der mehrstündigen Fahrt doch aufthauten.

Da war es denn ganz interessant zu beobachten, wie sich in ihrem Verhalten ihre Lebensstellung verrieth. Die sich am stillsten verhielten, auch am schlechtesten gekleidet waren, wurden mir als Fabrikmädchen bezeichnet – die Atmosphäre war ihnen augenscheinlich fremd, sie fühlten sich unbehaglich darin. Ein hübsches junges Mädchen in einem fast zu eleganten Costüm – gewiß von der Herrin ererbt – diente ohne Zweifel in einem feinen Hause. Sie unterhielt sich ganz unbefangen mit uns, ohne doch die Bescheidenheit zu verleugnen, welche die englischen Dienstmädchen weit mehr, als die unseren, bewahren, welch’ letzte, durch den steten Verkehr mit der Herrin, die ja oft an ihrer Arbeit Theil nimmt, leicht einen familiären Ton annehmen, den die englischen Verhältnisse fast unmöglich machen. – Mehrere der Mädchen waren dem elterlichen Hause, respective der Schule noch nicht entwachsen, denn sie dürfen schon mit zwölf Jahren dem Verein beitreten und genießen also schon früh den Schutz der „Freundin“, die desto größeren Einfluß auf sie ausüben kann.

Sehr hübsch war zu sehen, wie auf jeder Station neue Zuzüge von Mädchen, unter Leitung einiger Damen, hinzukamen, sodaß, als wir in Chester anlangten, ein ganzer Strom jugendlicher Gestalten sich aus den Waggons ergoß. Dieser Strom aber wuchs zum Meere an, als wir nun in Chester einwanderten, denn die Straßen der alten Stadt waren buchstäblich mit den Zügen der jungen Festtheilnehmerinnen angefüllt.

Der erste Versammlungspunkt war die Kathedrale, ein imposantes, altes Bauwerk, in der ein Festgottesdienst abgehalten wurde. Mehr als 800 junge Mädchen nahmen das Schiff der Kirche ein und sangen aus vollen, frischen Kehlen die Lieder, welche, zum Theil ihnen schon aus ihrem Mitgliedsbüchelchen bekannt, mit den dazu gehörigen Noten unter alle Theilnehmer vertheilt waren. Ein zum Verein gehörender Geistlicher, ein freundlicher, alter Herr, hielt die Predigt.

Von der Kathedrale aus ging der unabsehbare Zug nach dem Festlocale, einer ungeheuren, mit Fahnen und Blumen geschmückten Halle, in der endlose Tafeln, mit allem Zubehör eines englischen Thees bedeckt, der Gäste warteten. Auf hohen Standarten waren die Namen der vertretenen Orte an den Tafeln zu lesen, sodaß die große Menge sich leicht ordnete.

Wer aber zählt die Schüsseln mit Butterbroden, nennt die Namen der Kuchen, Fleischpasteten, Sandwiches etc., die gastlich hier geboten wurden? Berge von Vorräthen schwanden unter den frei zulangenden Händen der Gäste, zinnerne Fässer voll Thee leerten sich unter den emsig austheilenden Händen der Wirtinnen, bis zuletzt nichts übrig blieb, als etliche unbelegte Butterbrode und die Blumenbouquets.

Jetzt, nachdem der eß-theetische Theil beendet, folgte der ästhetische Theil des Festes. Aller Augen wandten sich nach oben, nach der Gallerie, auf der jetzt die Redner erschienen. Der Secretär der Gesellschaft, ein M. P. (Parlaments-Mitglied), war speciell zu dem Zweck von London nach Chester gekommen, um dem Feste beizuwohnen, und hielt nun eine herzliche Anrede an die Mädchen, welche seine Worte – wie in der That die jedes folgenden Redners – mit lebhaftem Applaus aufnahmen. Es schien fast, als sei der Thee ihnen etwas zu Kopf gestiegen, so geräuschvoll bezeigten sie ihren Beifall, besonders als der hohen Protectorin des Vereins, der Königin Victoria, gedacht wurde, sowie einiger anderer Damen, die sich um den Verein verdient gemacht hatten. Dann sang man einige Lieder; zum Schluß das unvermeidliche „God save the Queen“, das jede musikalische Production in England abschließt, und welches natürlich von der ganzen Versammlung stehend gesungen wurde.

Das schöne Wetter, das unser Fest den ganzen Tag über begünstigt hatte, lockte uns nun in’s Freie. Ein Theil der Gesellschaft wanderte nach dem Flusse zu, um die hübsche Umgegend kennen zu lernen oder Kahnfahrten zu unternehmen, Andere besahen die alterthümliche und höchst eigenartige Stadt. Ich schloß mich den Letzteren an und bewunderte die prachtvollen Kaufhallen die mit ihren langen Colonnaden mich an Bern erinnerten, und die mächtigen Festungsmauern, auf denen man spazieren gehen kann und die mit kleinen Wohnhäusern bebaut sind. Nun begriff ich auch, wie einst Rahab die Kundschafter Josua’s aus ihrem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_276.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)