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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

wie die vielgefeierte Blume der Prairien die Himmelsgegenden mit seinen senkrecht gestellten Blättern bezeichnete, was man bis dahin vollständig übersehen hatte. Eine Anzahl von geistreich abgeänderten Versuchen zeigte ihm, wie er im Voraus vermuthet hatte, daß die genaue Einstellung der Blätter dieser Pflanzen in die Mittagsebene einzig durch das Verhalten der Blätter gegen das Licht bedingt wird, ohne daß dabei irgend welche magnetische oder elektische Kräfte in Betracht kommen. Professor Stahl hat darüber in einer Abhandlung berichtet, die auch als besondere kleine Schrift („Ueber sogenannte Compaßpflanzen“, Jena) erschienen ist und der wir einzelne der hier mitgeteilten Thatsachen, sowie die Abbildung der deutschen Compaßpflanze entnommen haben.

Wie Jedermann und besonders die schöne Leserin aus den Erfahrungen der Zimmerpflanzenzucht weiß, wachsen die meisten Pflanzen dem Lichte entgegen, und viele von ihnen, z. B. die Bocksbartarten unserer Wiesen, wenden ihre Blumen stets der Sonne zu, sodaß sie ihrem Laufe am Himmelsgewölbe folgen und Abends ihre nach Westen gerichtete Blüthe schließen, um sie des Nachts aufzurichten und beim ersten Frühscheine wieder nach Osten zu wenden. Eine ähnliche Eigenschaft, wie sie von so vielen Blumen bekannt ist, beobachtete Dr. Fritz Müller in Brasilien kürzlich an den jungen Blättern einer schönen gelben Schmetterlingsblume aus der Ginstergruppe (Crotolaria cajanaefolia) welche die ganze Nacht hindurch so auffällig nach der Stelle hindeuteten, wo die Sonne untergegangen war, daß sich ein Wanderer darnach fast noch bequemer als nach der Compaßpflanze hätte orientiren können.

Man bezeichnet diese Eigenschaft der Stengel, Blumen und Blätter, sich nach dem Lichte hinzuwenden, allgemein als Sonnenwendigkeit (Heliotropismus) und die umgekehrte Eigenschaft einzelner Pflanzen, das allzu grelle Licht zu fliehen und den Halbschatten zu suchen, als negativen Heliotropismus oder Apheliotropismus.

Während nun die meisten Stengel die Eigenschaft haben, dem Lichte entgegenzuwachsen, besitzen die meisten Blätter die Fähigkeit, sich gegen die auf sie treffenden Lichtstrahlen senkrecht zu stellen, das heißt also auf offenem Felde, wo das Licht von oben kommt, wagerecht, im Gebüsch und in der Baumkrone den veränderten Umständen gemäß. Man bezeichnet diese Eigenschaft der Blätter, sich stets quer gegen das einfallende Licht zu stellen, der zu Liebe sie an wagerechten Zweigen und im dichten Baumwipfel mancherlei Drehungen ausführen, um stets den größten Lichtgenuß zu haben, als Diaheliotropismus, und von diesem giebt es eigentlich weniger Ausnahmen als vom Heliotropismus.

Indessen finden wir namentlich in den lichtempfindlichen Familien der fiederblätterigen Pflanzen, zu denen die echten Akazien und Mimosen gehören, eine Anzahl von Pflanzen, welche ihre Blätter für gewöhnlich zwar ebenfalls senkrecht zum herrschenden Licht stellen, das heißt sich vorwiegend horizontal ausbreiten, dagegen der intensiven Mittagsgluth der Sonne zu entfliehen suchen, indem sie ihre Blätter zusammenfalten und geradezu in die Richtung der Sonnenstrahlen stellen, um möglichst wenig von denselben bestrichen zu werden.

Zu dieser Classe von Pflanzen, welche die Mittagssonne fürchten, gehören nun offenbar auch die Compaßpflanzen mit ihren dauernd senkrecht gegen den Himmel aufgerichteten Blättern. Bei der deutschen Compaßpflanze, dem wilden Lattich, stehen die leierförmig eingebuchteten Blätter ihrem natürlichen Wachsthum nach eigentlich, wie bei den meisten Pflanzen, gleichmäßig rings um den Stengel vertheilt, sodaß ihre Spitzen von rechtswegen nach allen Himmelsgegenden zeigen müßten. Allein die Südrichtung bietet im Sommer ebenso wenig Lichtreiz als die Nordseite, denn die Sonne geht dann nicht wie im Winter rings am Horizonte herum, sondern ihr Lauf schneidet die Mittagslinie beinahe in senkrechter Ebene, sie steht am Mittag mehr oder weniger im Scheitel des Beobachters, sodaß für die seitliche Belichtung der Sommerpflanzen eigentlich nur Osten und Westen in Betracht kommen. Solche Pflanzen, welche, auf freiem Felde wachsend, die Mittagsgluth scheuen, werden daher eine Anregung erhalten, sich streng nach der Mittagslinie zu richten, die Blattoberflächen ein für allemal gegen Osten und Westen zu kehren, um sowohl die Morgensonne wie die Abendsonne zu genießen, und so zu einem lebendigen Compaß aufzuwachsen.

Von den ursprünglich gleichmäßig rings um den Stengel vertheilten Blättern unseres wilden Lattichs werden daher die auf der Süd- und Nordseite des Stengels hervorwachsenden Blätter eine Drehung des Blattstiels um circa neunzig Grad ausführen, um ihre Flächen abwechselnd nach Osten und Westen zu richten, während sich die schon durch die natürliche Wachsthumsrichtung nach Osten und Westen gerichteten Blätter nur einfach gegen den Stengel zu erheben brauchen, um ihre Blattflächen nach Osten und Westen zu kehren, wobei sie sich nur seitlich ein wenig ausweichen. Die Pflanze wächst also erst in Folge des auf sie wirkenden Sonnenscheins sozusagen in die senkrechte Mittagsebene hinein, ähnlich wie die rings um die Achse vertheilten Blätter vieler wagerechten Baumzweige erst durch mannigfache Drehungen und Biegungen der Blattstiele in die vorherrschende, zweizeilig wagerechte Anordnung hineinwachsen, und daher kann es kommen, daß, wenn die Sonne in der Hauptwachsthumsperiode hinter den Wolken bleibt, dber die Pflanze ihren Strahlen nicht von allen Seiten frei ausgesetzt ist, diese dann auch die erwähnten Stellungseigenthümlichkeiten nicht scharf zur Ausprägung bringen wird.

In solchen Verhältnissen liegt offenbar die Erklärung der verblüffenden Erscheinung, daß die Compaßpflanzen in den botanischen Gärten ihre geheimnißvollen Fähigkeiten nicht entwickeln wollten, wahrscheinlich weil sie der Sonne nicht nach allen Seiten frei ausgesetzt, sondern im ein- oder mehrseitigen Schatten von Bäumen oder Gebäuden aufgewachsen waren. Vielleicht war auch die Witterung während des Aufwachsens ungünstig gewesen, sodaß die Sonne nicht stark und häufig genug während ihres Wachsthums auf die jungen Blätter einwirken konnte, denn nur die jungen, noch wachsenden Theile folgen den Anregungen des Lichtes leichter. In solchen Fällen ist dann die Meridianstellung der Blätter nicht vollständig erreicht, man sieht viele halb oder schiefgewendete Blätter, zuweilen ist das Blatt dann gekrümmt. Professor Stahl hat über die Einflüsse einer theilweisen Beschattung auf das Wachsthum der deutschen Compaßpflanze eine Anzahl von Versuchen angestellt, die sehr lehrreich waren, insofern als die Lattichpflanzen ganz verschiedene Gestalten annahmen, je nachdem sie in Gruben aufgezogen wurden, in denen sie nur Oberlicht bekamen, oder unter Gestellen, die sie vor der Mittagssonne schützten etc.

Die frei gewachsenen Exemplare zeigten dagegen, selbst als Gruppe gezogen, die schönste gleichmäßigste Orientirung nach der Mittagsebene, sodaß sie dem in derselben stehenden Beobachter die schärfste Profilansicht darboten. Man sieht leicht ein, daß solche Eigenthümlichkeiten sich nur bei solchen Pflanzen herausbilden werden, die gewohnt sind, nicht im Schatten höherer Gewächse, sondern stets auf offenen, baumlosen Ebenen zu wachsen, und namentlich bei solchen, die auf etwas trockenerem Boden gedeihen, weil diesen der Schutz gegen die Wasserverdunstung in der Mittagssonne am nöthigsten ist. Daß die amerikanische Compaßpflanze eines Schutzes gegen die erbarmungslose Sonne der Prairie bedurfte, scheint auch ihr Reichthum an harzigen Duftstoffen zu verrathen, denn nach den Versuchen Tyndall’s kann nichts eine Pflanze besser vor der strahlenden Wärme der Sonne schützen, als die Duftwolke, die sie wie einen Schutzmantel um sich verbreitet. Einem unsichtbaren Sonnenschirme gleich, verschluckt diese Duftatmosphäre den größten Theil der Wärmestrahlen und läßt sie nicht bis zu der Pflanze gelangen, und deshalb bedecken sich die trockenen Berglehnen der Mittelmeerländer, die den glühendsten Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, vorwiegend mit starkwürzigen Kräutern, Lavendel, Thymian, Dossen etc., welche die Sonnengluth eben aushalten können. Der wilde Lattich hat sich, wie wir in dem Bilde sehen, noch einen anderen ungewöhnlichen Schutz nach außen zugelegt, er hat nicht blos seine Blattränder, was ja gewöhnlich vorkommt, sondern auch die stets nach außen gekehrte Mittelrippe der Blattunterseite mit scharfen Dornen bewaffnet. Es galt, da sich die dornigen Blattränder alle nach Norden und Süden richten, auch lüsternen Thieren, die von Osten oder Westen kommen konnten, ein wenig die Zähne zu weisen, daher diese eigenthümliche Bewaffnung.

So hat sich nun das Geheimniß der Compaßpflanzen in ziemlich einfacher Weise und ohne Zuhülfenahme verborgener magnetischer Kräfte oder elektrischer Strömungen lösen lassen, als die einfache Folge des Bogens, welchen der scheinbare Lauf der Sonne am Sommerhimmel beschreibt. Demgemäß muß man erwarten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_294.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2023)