Seite:Die Gartenlaube (1883) 368.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

langsam zog er sein Messer hervor und öffnete es und in dem Augenblick, wo Werdenfels wirklich davonritt, sprang er vor.

„Nun, wenn er fest ist, so wird es doch das Pferd nicht sein!“ rief er höhnisch und dabei führte er blitzschnell, aber mit voller Gewalt, einen Stoß gegen den Leib des Thieres, das Messer vergrub sich bis in das Heft darin.

Ein furchtbares, wildes Aufbäumen des auf den Tod verwundeten Pferdes scheuchte Alles aus seiner Nähe, die Menschen stoben rechts und links zur Seite, während Raimund, der noch gar nicht wußte, was geschehen war, vergeblich versuchte, des Zügels Herr zu bleiben. Emir setzte nochmals zu einem letzten verzweifelten Sprunge an, aber die Kraft versagte ihm, er schlug wild mit den Vorderfüßen in die Luft, überschlug sich dann und, den Reiter aus dem Sattel schleudernd, stürzte er im Todeskampfe zusammen.

Das Alles war das Werk weniger Minuten. Das Pferd lag verblutend am Boden und wenige Schritte entfernt der Reiter. Auch von seiner Stirn rieselte das Blut nieder und er lag regungslos ausgestreckt, ohne Lebenszeichen. In der eben noch so haßerfüllten Menge herrschte eine Todtenstille, scheu blickten Alle auf den Gestürzten und auf das sterbende Roß, sie sahen es jetzt freilich, daß der Felsenecker nicht fest war, aber es schien, als hätte er den Beweis mit seinem Leben bezahlt.

Da kam ein Wagen im schnellsten Trabe durch das Dorf, der Kutscher trug die Werdenfels’sche Livrée, und ein junger Mann beugte sich aus dem Schlage. Es war Paul, der von Rosenberg zurückkehrte; als er die ungewöhnliche Versammlung in der Dorfstraße gewahrte, ließ er den Wagen halten und sprang heraus.

„Was giebt es? Was ist geschehen?“ fragte er rasch und unruhig.

Niemand antwortete, aber die Nächststehenden drängten sich unwillkürlich dichter zusammen, um dem jungen Baron den Anblick zu entziehen, endlich nahm der Gemeindevorsteher das Wort.

„Es ist ein Unglück passirt,“ sagte er stockend. „Der Freiherr – ist gestürzt.“

„Gestürzt? Hier in der Dorfstraße?“ rief Paul, indem er sich Bahn machte und den Kreis durchbrach. Ein einziger Blick zeigte ihm, was geschehen war, in der nächsten Minute war er an der Seite seines Onkels und versuchte, ihn aufzurichten.

Da öffneten sich nochmals die Reihen und diesmal ohne jedes Zögern vor dem Pfarrer, den der steigende Tumult denn doch aus seiner Wohnung getrieben hatte.

„Was ist vorgefallen?“ fragte auch er. „Ein Unglück?“

„Nein, ein Verbrechen!“ sagte Paul mit Bitterkeit, indem er auf das erstochene Pferd wies. „Sie sind ja sonst immer am Platze, Hochwürden, wenn in Werdenfels etwas vorfällt – hier kamen Sie wohlweislich zu spät!“

(Fortsetzung folgt.)




Auf Leipzigs Schreber-Plätzen.

Endlich, nach langem Zögern, ist der Frühling zu uns gekommen. In den großen Städten freilich merkt man nur wenig davon, und der weite ermüdende Weg durch die langen Straßen mit ihrem harten Pflaster hält gar Viele ab, ihn in seiner vollen Herrlichkeit in Wald und Flur zu bewundern. Und gerade die Alten und Kranken, denen die reine Frühlingsluft die beste Arznei wäre, und dann die Kinder, die jungen Menschenpflanzen, denen frische Luft und warmer Sonnenschein zum fröhlichen Gedeihen so nothwendig sind – gerade sie erhalten oft am wenigsten davon.

Was müssen doch die Kinder großer Städte entbehren!

Auf die Straßen und staubigen Plätze angewiesen, haben viele von ihnen kaum eine Ahnung von Wald und Flur. Sie kennen die bunte Wiese, das wogende Saatfeld nur aus dem Bilderbuche, und das Trillern der Lerche, den vielstimmigen Vogelgesang haben sie nie gehört. Ihr Auge sieht nur das Nahe, ihr Ohr ist betäubt von dem Getöse der Großstadt, in deren inneren Straßen sogar das Rollen des Donners von dem Rollen der Wagen übertönt wird. Fast alle Naturerscheinungen – außer Regen und Schnee – gehen an diesen Kindern, deren ungeübte Sinne sie nicht zu beobachten vermögen, spurlos vorüber.

Ist das nicht zu viel gesagt?

In Berlin hatten von 100 neu in die Schule eintretenden Kindern nur 17 Schilf gesehen, 18 den Gesang der Lerche, 31 den Ruf des Kukuks gehört, 24 eine Erntethätigkeit, 26 das Pflügen, 26 eine Eiche, 31 den Aufgang der Sonne, 32 einen Berg, 34 ein Dorf, 36 einen Wald, 39 eine Schafheerde, 41 ein Aehrenfeld, 46 eine Wiese, 46 den Sonnenuntergang, 53 ein Kartoffelfeld, 59 Wolken, 60 einen Schmetterling, 63 das Abendroth, 78 einen Regenbogen beobachtet. In anderen weniger großen Städten ist es natürlich besser; aber ähnliche Erfahrungen hat man auch dort gemacht. Wohl sucht nun die Schule durch ihren Anschauungsunterricht Klarheit in die kleinen Köpfe zu bringen, soll namentlich auch den Sinn für Naturbeobachtung anregen; aber die paar Schulspaziergänge im Jahre können dies nicht erzwingen, und Schulgärten giebt es zur Zeit nur wenige. Je älter aber das Kind wird, desto mehr wird es von der Schule in Anspruch genommen, und die leidigen Privatstunden verbittern ihm vollends die wenigen freien Stunden. „Umgang mit der Natur und auf Grund desselben dauernde Freundschaft mit der Natur, das ist das Glück, welches keinem Kinde vorenthalten werden darf.“ Wie weit bleibt man doch hinter dieser Forderung des Jenenser Pädagogen Stoy zurück!

Aber es kommt noch schlimmer!

Dadurch, daß man die Kinder fast den ganzen Tag an das Schul- und Arbeitszimmer fesselte und so die körperliche Ausbildung in schlimmster Weise vernachlässigte – die wenigen, oft nicht einmal in richtiger Weise ertheilten Turnstunden sind kein Gegengewicht gegen die übermäßige geistige Anstrengung – dadurch erzog man jene brillentragende, schwächliche, bleichsüchtige Jugend, die einem heutzutage auf Schritt und Tritt begegnet.

Nun sollen die Lehrer an Allem schuld sein!

Sind es denn aber nicht die Eltern selbst, die nicht müde werden, von der Schule mehr zu verlangen, die Ziele derselben immer höher zu schrauben? Giebt es nicht viele Väter, denen die Ferien als ein Gräuel, jeder Schulspaziergang als eine Bummelei, jeder wegen Hitze freigegebene Nachmittag als unnöthige Zeitverschwendung erscheinen? Da erklärt hier ein Vater: „Wenn’s meinem Sohne auch sauer wird, den Berechtigungsschein zum Freiwilligendienst muß er mir bringen, und sollte er halbe Nächte durch über den Büchern liegen müssen;“ und hier spricht eine Mutter: „Clavierspielen und Zeichnen muß meine Tochter lernen, das Bischen Sitzen wird ihr nichts schaden.“ In unserer schnelllebigen Zeit will man baldige Erfolge sehen, nach einer naturgemäßen Entwickelung fragt man nicht. Ein spielendes Kind ist solchen Eltern ein Aergerniß, sie jagen es zurück hinter die Bücher und sehen es nicht, daß ihr Kind dabei schief, halb blind und elend wird. Wahrhaftig, daß es unter solchen Umständen noch immer gesunde Kinder giebt, ist ein Beweis für die Unverwüstlichkeit und Zähigkeit der menschlichen Natur. Aber hohe Zeit wurde es, daß energische Männer, wie der Düsseldorfer Amtsrichter Hartwich, Einsprache erhoben, daß die Spitzen der maßgebenden Behörden selbst, wie der sächsische Cultusminister von Gerber und der preußische von Goßler, ihr gewichtiges Veto aussprachen. Nun gingen auch Denen die Augen auf, die vorher nicht sehen wollten, und man beklagte allgemein die mit geistiger Arbeit überbürdete Jugend, die um ihre schönsten Lebensjahre betrogen würde. Man wies auf England hin, wo fast überall großartige Spielplätze angelegt sind und die körperliche Ausbildung der Jugend in vorzüglicher Weise gepflegt wird. Aber auch in unserem Deutschland ist schon seit Jahren hier und da in dieser Beziehung ein erfreulicher Anfang gemacht worden. In turnerischen Kreisen sind die von Gutsmuths, Jahn und anderen Meistern gepflegten Turnspiele zeitweilig wohl zurückgedrängt, aber nie ganz vergessen worden, und einsichtige Aerzte und Pädagogen haben immer das alte Wort: „In einem gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele“ zur Geltung zu bringen gesucht.

Als ein Ausgangspunkt solcher gesunder Bestrebungen muß Leipzig bezeichnet werden, wo Männer wie Roßmäßler, Bock, Schreber, Hauschild und Andere mit Erfolg für eine naturgemäße Jugenderziehung wirkten. Die ersprießliche Thätigkeit der erstgenannten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_368.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)