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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)


eine der malerischesten Haiden Norddeutschlands, die Senne, hinabsteigen, und wenn man aus den dunklen Waldschluchten kommend plötzlich die mächtige Haide bis zum Horizonte ausgebreitet zu seinen Füßen liegen sieht, so hat man genau dasselbe Gefühl, als gewänne man, zwischen hochgewölbten Dünen hervortretend, den Blick auf das weite Meer.

Und hier, an der Grenze zwischen Wald und Haide, war auch unser Ziel, der gesuchte Kampfplatz, gelegen, denn hier schneidet das Wildgatter weit in die Haide hinaus und kehrt erst in weitem Bogen zum Walde zurück, hier treten mit hereinbrechender Nacht die Hirsche heraus und kämpfen ihre gegenseitigen Fehden aus.

Im sinnenden Hinausschauen, zu welchem der Anblick der Haide den Menschen anzuregen pflegt, wurde ich plötzlich durch meinen Begleiter unterbrochen, der mich schnell um meinen Feldstecher bat, ihn eine Zeit lang in die Haide hinausrichtete und dann sagte:

„Sehen Sie dort den wunderlich gekrümmten Wachholderbusch über dem langgezogenen Sandstreifen – dicht dahinter streicht jetzt ein Hirsch außerhalb am Gatter entlang.“

In der That bemerkte ich, was das geübte Auge des Forstmanns auch ohne Glas schon wahrgenommen, ein Stück Wild, welches langsam, dann und wann stehen bleibend, am Gatter hinzog.

Jetzt schien meinem Begleiter ein besonders einleuchtender Gedanke zu kommen.

„Wenn wir Glück haben, sollen Sie was Interessantes zu sehen bekommen – wie steht’s mit dem Winde?“

Von Wind war nun freilich nicht die Rede, die Sonne stand nicht mehr hoch und den reinen Aether begann leichtes, dünnes Gewölk zu umspinnen – eine Luftstimmung, welche mit großer Stille in der Natur verbunden zu sein pflegt.

Mein Forstmann befeuchtete mit der Zunge den Rücken und die innere Fläche der Hand und hielt sie dann in die Höhe – die Prüfung schien nach Wunsch auszufallen, eine leichte Bewegung der Luft stand von der Haide nach uns herüber und verhinderte also den Hirsch, bei größerer Annäherung Witterung von uns zu erhalten.

„Und nun kommen Sie schnell zum Einsprung!“

Mit diesen Worten schritt mein Begleiter weit aus, quer durch die Büsche, bis wir wieder an der Grenze zwischen Wald und Haide mit dem Wildgatter zusammen stießen, dem wir folgten. Unterwegs wurde mir nun auch Aufklärung über das, was mein Begleiter beabsichtigte, und vor Allem, was „Einsprung“ sei. Dann und wann nämlich tritt Wild aus, das heißt es gelingt ihm, sei es durch ein aus Nachlässigkeit offen gebliebenes Wildthor oder sonst auf irgend welche Weise, außerhalb des Gatters zu gelangen; ja man hat sogar beobachtet, daß es sich platt zur Erde legt und seitwärts unter der untersten Sparre oder dem Drahte hindurchzwängt. Da es sich aber in der offenen Haide nicht hält, versucht es, in seine alten Gründe zurückzuwechseln – gelingt ihm dies nicht, so ist es natürlich für den Wildstand des betreffenden Reviers verloren.

Um ihm nun den Eintritt zu erleichtern, ohne zugleich andererseits auch dem innen befindlichen Wild den Austritt zu ermöglichen, errichtet man an verschiedenen Stellen einen sogenannten Einsprung, welcher dann auch ab und zu einmal von anderen aus fremden Revieren herüberwechselnden Thieren benutzt wird. Das begleitende Bild giebt die Construction eines solchen: ein Haidehügel ist quer durchschnitten; die Durchschnittsfläche ist von einer Höhe, daß es einem innen befindlichen Wild unmöglich ist hinaufzuspringen, während ein oben stehendes leicht hinabzuspringen vermag – links und rechts zieht sich das Wildgatter heran und macht den Abschluß vollständig.

Mein Begleiter rechnete nun darauf, daß das vorhin von uns in der Haide draußen beobachtete Wild, da es sich in der entsprechenden Richtung fortbewegte, schließlich zum Einsprung gelangen müsse, und wir vielleicht Gelegenheit hätten, einen solchen Eintritt zu beobachten.

Rüstig fortschreitend gelangten wir endlich zu dem Einsprung, dessen altersgraues Gebälk zum Theil durch die Last der nachdrängenden Sandmasse gesprengt war, während das Haidekraut, das in dichten Büschen seinen Rücken bedeckte, sich durch die Sprünge und Risse gedrängt hatte. Das Ganze machte dergestalt mit der umgebenden Scenerie einen höchst malerischen Eindruck.

Zwischen Kiefern und Brombeerbüschen suchten wir uns eine gedeckte Stellung und sahen nun der Ankunft des Erwarteten entgegen. Es war inzwischen lebendig geworden im Gebirge. Hier und dort, bald aus weiter bald aus geringerer Ferne erhob sich das Tönen der Hirsche, das Echo der Schluchten und Thäler weckend. Unter „Tönen“ versteht man in diesen Gegenden das Gebrüll des Hirsches, welches man anderwärts mit „Röhren“ bezeichnet. Aber Viertelstunde um Viertelstunde verrann – der Erwartete erschien nicht, und selbst wenn wir uns an’s Gatter schlichen, vermochten wir, soweit unser Auslug reichte, nichts Lebendes in der Haide draußen zu erblicken.

Die Sonne stand über dem Horizont und neigte sich zum Untergang, wir gaben die Hoffnung auf und waren eben daran, unser Versteck zu verlassen, als hinter uns im Walde und näher als bisher ein Hirsch seine Stimme erhob, der kaum eine halbe Minute darauf ein dröhnendes Gebrüll und zwar so dicht bei uns antwortete, daß wir fast erschreckt zusammenfuhren. Der wilde Hirsch greift den Menschen nie an, wenn er nicht verwundet wird – eine Gefahr und demgemäß eine Furcht vor demselben ist also ausgeschlossen – aber das Gebrüll des Hirsches hat eine außerordentlich große Aehnlichkeit mit demjenigen des Tigers und übt denselben Einfluß auf unsere Nerven, den das letztere selbst hinter den Gittern des Käfigs hervorbringt. Hier aber hatte es für uns noch die weitere Bedeutung, daß es den längst Erwarteten ankündigte.

Und da war er – durch die Büsche, zwischen den Stämmen hindurch, konnten wir seine Umrisse erkennen, wie er langsam am Gatter entlang schritt – jetzt erschien er am Hügel, welchen der Einsprung durchschnitt – er blieb stehen, ziemlich lange, dann aber machte er – zu unserer großen Enttäuschung – Kehrt und ging auf seiner Fährte zurück. Hatte er von uns Witterung bekommen?

Jetzt wandte er sich der Haide und von Neuem dem Hügel zu – derselbe entzog uns seinen Anblick, aber es dauerte nicht lange und wir sahen ihn an der andern Seite zum Vorschein kommen – wogenden Hauptes, stolz und bedächtig.

Wir streckten uns platt in die Büsche, denn er hätte uns von dort wohl bemerken können, um so mehr, als er eine Zeit lang nach dem Wald zu äugte.

Darauf begann er zu sichern und verschwand wieder hinter dem Hügel des Einsprunges. Und nun bot sich uns jenes Bild, von dem ich oben sagte, daß es von geradezu dramatischer Wirkung war und dessen Eindruck trotz der Einfachheit des ganzen Vorganges mir immer lebendig geblieben ist.

Vor Allem schon die Scene, auf welcher der Acteur wie auf einer Bühne sogleich erscheinen sollte: die letzten Strahlen der untergehenden Sonne strichen über die erglühende Haide, hell auf den schimmernden Sandstrecken, in welche die vorliegenden Hügel langgestreckte lichtblaue Schatten zeichneten, purpurfarben oder violett dagegen auf dem braunen Haidekraut, und während die Haide nach Westen hin in der Lichtfluth des versinkenden Tagesgestirns gleichsam aufzugehen schien, verschwand sie nach Osten hin in der tiefblauen Dämmerung der dort schon von der Haide Besitz ergreifenden Nacht.

Und mitten in dieser Scenerie erschien nun, langsam und gemessen emporsteigend, der Hirsch, ein Sechsender, dessen prachtvolle Gestalt sich wie eine Silhouette am dämmernden Abendhimmel dunkel abhob.

Da stand er, hochaufgerichtet, den Kopf langsam und in getragener Bewegung bald nach links, bald nach rechts richtend, bald hierher, bald dorthin schreitend, um nach kurzer Bewegung wiederum dicht über dem Einsprung zu stehen und rollenden Auges in den dunkeln Wald zu blicken – ein wahrer Hercules am Scheidewege. Denn unwillkürlich drängte sich hier dem Beschauer gegenüber dem zaudernden Thier die Aehnlichkeit mit dem vor einen Entschluß gestellten Menschen auf.

Hinter ihm die Freiheit der Steppe, vor ihm das lauschige Waldesdunkel mit seinen Schlupfwinkeln und Weideplätzen, aber auch die Gefangenschaft im Wildgatter – frei oder nicht frei – das bewegte vielleicht ahnungsvoll die Thierseele des ritterlichen Waldgesellen vor uns, der jetzt den Kopf emporreckte und weit hinein in’s Gebirge ein zorniges Gebrüll entsandte, als wolle er dem, was sein Inneres bewegte, gewaltig Luft machen.

So schön und edel die Bewegungen des Hirsches sind, zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_386.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)