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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Nur langsam wandte sie darum endlich den Kopf und sah mit einiger Befremdung eine fremde, sauber gekleidete Frau vor sich stehen, behäbig und mit ziemlichem Embonpoint ausgestattet – vermuthlich eine Vermiethsfrau oder Wäscherin, oder sonst etwas dergleichen. Es schien fast, als ob der Besuch mit naiver Selbstschätzung auf eine Einladung zum Niedersitzen warte. Das aber war keineswegs nach Kätchens Geschmack. Sich eine halbe Stunde von der besten Waschmethode und den Vorzügen des Bleichens unterhalten zu lassen, wenn man den Kopf bis obenhin voll interessanterer Dinge hat, das war zu viel verlangt. Erwartete sie doch jeden Augenblick den neuen Vetter Fritz wieder, und es war ihr aus diesem Grunde eigentlich sehr angenehm gewesen, daß die Tante auf den Wochenmarkt gegangen war. Der neugebackene Doctor und Vetter hatte ihr nämlich versprochen, ihr heute Morgen seine hübschesten Studentenlieder vorzusingen, sie aber wollte ihn selbst dazu auf dem Piano begleiten. Die junge Dame blickte darum sehr von oben herab und frug recht unfreundlich:

„Wen suchen Sie denn eigentlich?“

„Die junge Frau Assessor – ach Gott, Sie sind’s ja nicht!“

„Die Frau Assessor ist nicht hier,“ beschied Käte kurz.

„Wo ist sie denn?“

„Sie sehen ja – fort!“ antwortete die junge Dame noch kürzer und voll steigenden Verdrusses über die auffallende Beharrlichkeit, „was weiß ich’s!“

„Ist sie denn nicht – angekommen?“

Käte, die das Incognito ihrer Verwandten noch nicht preisgeben wollte (erst heute Nachmittag sollte es ja fallen), antwortete schnell entschlossen:

„Nein, sie ist nicht angekommen!“

„Nicht?“ frug Frau Nährkorn sehr erstaunt und wußte nicht, was sie eigentlich denken sollte.

„Nein – weshalb auch?“

„Der Herr Gemahl ist aber doch angekommen!“

„Wieso?“ machte Käte – „durchaus nicht!“

„Wie sie lügen kann!“ dachte entrüstet Frau Nährkorn, und sagte:

„Ich bin ihm doch eben auf der Treppe begegnet.“

„Nun – dann muß er freilich wohl zurück sein,“ lachte Kätchen laut.

„Gestern – nein vorgestern ist er schon gekommen,“ triumphirte Frau Nährkorn weiter.

„Aber dann wissen Sie’s ja – weshalb fragen Sie denn noch? Die Frau Assessor ist aber jedenfalls noch nicht hier!“ triumphirte jetzt wieder Käte, der das letzte Endchen ihres schwachen Geduldfadens riß und die den sonderbaren Besuch um jeden Preis los zu werden wünschte.

Aber Frau Nährkorn ließ sich nicht mehr einschüchtern, sondern frug mit einem ihren Gedanken verrathenden Blicke auf Käte’s wiederaufgenommene häusliche Thätigkeit:

„Und dafür sind Sie wohl hier?“

„Wie Sie sehen!“ spottete Käte, indem sie die Fächer des Buffetschrankes abschloß und den Schlüsselbund hausfraulich, aber ein wenig kokett in den Gürtel steckte.

„Und – Sie sind gestern auch angekommen?“

„Vorgestern, wenn Sie erlauben,“ hohnlachte Käte.

„Richtig, vorgestern. Und Sie wollen – hier bleiben?“ frug Frau Nährkorn, einen Schritt zurückweichend, zum letzten Male, und dabei rasch, zornflammend, aber mit stockendem Athem. Denn vor ihrem Geiste stand plötzlich nebelhaft das entsetzlichste Geheimniß! …

Käte wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Aus dem Felde schlagen, von einer beliebigen Unbekannten, ließ sie sich denn aber doch nicht. Deshalb sagte sie trotzig:

„Natürlich bleib’ ich hier – immer! – wenigstens so lange er’s haben will!“ setzte sie plötzlich timide hinzu. „Was geht übrigens Sie mein Hierbleiben an? Sie – unverschämte Person!“

„So, so, das geht mich sehr viel an! Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin die Frau des Vicewirths und eine ordentliche reputirliche Frau und habe auf Ordnung im Hause zu sehen, und darum werde ich nicht leiden, daß, daß –“

„Was?“ frug Käthchen unschuldig.

Aber Frau Nährkorn hörte nicht mehr. Zornflammend hatte sie sich gewandt, um diese – Mördergrube zu verlassen. Denn immer klarer trat vor ihre erschreckte Seele ein grausiger Zusammenhang, irgend eine Geschichte, wie sie jetzt in allen Blättern zu lesen war. … Wo war die arme junge Frau? – Die Sache mußte schleunigst klar werden! Da – nahe der Thür, flog der aufgeregten Dame, die in lebhafter Gesticulation die Arme ausgebreitet hatte, plötzlich Jemand gegen Kopf und Brust. Es war ein langer Junge, mit einem Paket Bücher und Heften unter dem Arme, und einer hellblauen, silberumränderten Mütze. Der junge Herr schien fast über die Gebühr aufgeschossen, hatte dazu ein weiches Kindergesicht mit Augen wie „Vergißmeinnicht in Milch gekocht“, und lange semmelblonde Haare, und sogar schon einige gleichfarbige hoffnungsvolle Bartsprossen.

„So – haben Sie schon gehört, junger Herr?“ fragte stockend und athemlos Frau Nährkorn, die trotz ihrer Aufregung, oder vielleicht just durch dieselbe, sofort den jungen Herrn Wegner erkannt. Hatte sie sich nicht soeben auf’s Lebhafteste mit der hochachtbaren Familie beschäftigt und sich dabei mit Kummer und Schmerz der armen Eltern erinnert?

„Was?“ fragte Max, der eben nur an die „Schwarte“ des Ovid dachte, die er aus der Bibliothek des Schwagers heimlich holen wollte. Er hatte das ersehnte Buch vor einigen Wochen bei einem Besuche zufällig bemerkt und bedurfte dringend desselben, als Ultimus von Obertertia.

„Er ist wieder da, der Herr Assessor Kerner, der unsere erste Etage gemiethet hatte – nicht lange vor der Hochzeit …“ berichtete Frau Nährkorn in unverminderter Aufregung weiter.

„Sie sind wieder da? Wirklich? Du liebe Zeit, und die Guirlanden, die Mama bestellt hat, sind noch nicht einmal fertig, und auch mein Transparent nicht, ich male es nämlich selbst, mit Tuschfarben! Was wird Mama sagen! Wo sind sie denn?“

„Entschuldigen Sie nur – nehmen Sie’s nur nicht übel, junger Herr – du lieber Gott, wie soll ich’s denn nur ausdrücken? … Sehen Sie, der Herr Assessar ist zwar angekommen, aber er hat die junge Frau nicht wieder mitgebracht.“

Auch andere Leute als der semmelblonde hoffnungsvolle Obertertianer hätten sich vermuthlich auf solche Kunde keinen passenden Vers zu machen gewußt. Max versuchte es gar nicht einmal. Mund und Nase standen ihm vor Verwunderung offen: er war sprachlos.

„Wo ist – er denn?“ ermannte er sich endlich. Denn, daß die Portierfrau die Wahrheit sage, wenigstens in Betreff seines Schwagers, war ihm – leider! unzweifelhaft. … Dort lag ja der ansehnliche Aktenstoß, den der erwartete Gerichtsdiener allmorgendlich abzutragen pflegte, und da in der Ecke am Kleiderständer hing Rock und Mütze des Schwagers, daneben der Stock. Wer konnte wissen, ob es ihm unter solchen Umständen nun noch gelingen würde, die Ovid-Schwarte heimlich zu acquiriren. Und er brauchte sie so nothwendig, wie das liebe – Butterbrod, und war darum gleich aus der Schule hierher gelaufen, um sie zu holen, in der sicheren Hoffnung, durch Vermittelung des ihm wohlbekannten Vicewirthes oder des Stiefelputzers in das leere Quartier zu gelangen. … Sollte er denn wirklich wieder wegen mangelhafter Präparation mit seinem alten Pech hereinfallen – heute Nachmittag?

„Der Herr Assessor sind ausgegangen – auf’s Gericht, glaube ich – wenigstens mit Acten.“

Trotz des drohenden Verlustes der Schwester gab diese Nachricht dem Bruder das Leben zurück. Der Ausdruck der Züge verlor etwas von seiner gewöhnlichen ausdruckslosen Starrheit, um sogleich einer affenartigen Geschwindigkeit der Glieder Platz zu machen. Noch war ja Hoffnung vorhanden. … Dort lag ja das Zimmer des Schwagers und gleich rechts an der Thür im Bücherbrette stand in einem verlorenen Winkel der verdeutschte Ovidius Naso. Mit zwei langen Sätzen war er an der Frau vorüber und drinnen im Zimmer, und ehe sich die würdige Dame vollständig von ihrem Schrecken erholt hatte, war er auch schon wieder zurück, das bestäubte Buch hoch in der Hand.

„Sie haben’s wohl nicht recht verstanden, vorhin – was ich Ihnen erzählt habe, junger Herr,“ sagte Frau Nährkorn mit starker Betonung, da ihr das Benehmen des Bruders schlechterdings unverständlich blieb.

„Doch, doch, ja so - Marie - wo ist sie denn?“ erwiderte Max, den der Besitz der „Schwarte“ fast wider Willen in solch triumphirend glückliche Seelenstimmung versetzt hatte, daß er bei der besten Absicht nicht gleich „außer sich sein“ konnte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_415.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)