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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Ja, wo ist sie denn? Das ist ja eben der Haken! … O, o, es ist zu gräßlich! …“ Dabei zog die Frau den jungen Mann zur Thür hinaus und warf sie hinter sich zu. Denn es drängte sie, endlich aus der Mörderhöhle zu entkommen.

„Mein Schwager ist also wirklich – allein zurückgekommen?“ stotterte Max.

„Ja! – Nein! – Die dort ist mitgekommen! – Vorgestern.“ Mit diesen Worten deutete Frau Nährkorn durch die Glasthür in’s Vorzimmer zurück, in welchem Käte soeben wieder erschienen war, um nachzusehen, ob der Vetter endlich komme. Sie hatte nämlich im Wohnzimmer das Zuwerfen der Thür draußen gehört.

Max stand mit aufgerissenen Augen und starr.

„Ich will nur gleich zu den Eltern laufen und es ihnen melden!“ sagte er endlich mit anerkennenswerther Geistesgegenwart.

„Versteht sich – gleich! Ach, die armen Eltern!“

„Ja, ja, gleich!“

Damit war Max die Treppe hinab, als ob ihm plötzlich der Kopf brenne. – –

Die weite Entfernung vom Westende bis zum Elternhause hatte vor allem anderen dazu beigetragen, das stille Glück der Liebenden zu verbergen. Jetzt ward sie leider verhängnißvoll! Max, nachdem er mit berechtigter Selbstliebe für sich oder vielmehr für die nächste Censur gesorgt hatte, beschäftigte sich nun noch allein mit der Schwester.

Wo war Mieze?

Mieze, die nicht nur das beste Vesperbrod schnitt, sondern ihm auch mit unendlicher Geduld englische und französische Vocabeln eingepaukt hatte, sodaß er Ostern „versuchsweise“ nach Obertertia versetzt war. …

Daß die Wohnung der Geschwister wirklich bewohnt war, hatte er ja deutlich wahrgenommen. Glaubte er doch trotz seiner Aufregung und Eile im Zimmer des Schwagers starken Cigarrendampf gerochen zu haben. Er glaubte sogar die Sorte wieder zu erkennen, die Cigarrentasche des Schwagers hatte ihm hinter dem Rücken des Vaters allezeit offen gestanden, und er hatte von dieser verwandtschaftlichen Annehmlichkeit auch ausgiebigsten Gebrauch gemacht.

Auch versicherte Frau Nährkorn, dem „Herrn Assessor“ auf der Treppe begegnet zu sein – Frau Nährkorn, die seine Mama noch kürzlich in seiner Gegenwart eine zuverlässige Person genannt hatte.

Man hatte all die Tage her daheim natürlich fast nur von den Neuvermählten gesprochen. Und zwar kopfschüttelnd von allen Seiten! Wenigstens nach den Grüßen und letzten Nachrichten, die Vetter Fritz, der sie in Heidelberg gesprochen, von ihnen zurückgebracht hatte.

„Nach Italien lasse ich mir noch gefallen,“ hatte der Vater gesagt, „man muß die Feste feiern wie sie fallen! Aber bis nach Sicilien? Nun, meinetwegen auch dies, wenn nämlich der Geldbeutel reicht. Aber nach Algier? Zum Kukuk, was wollen sie denn in Algier?“

Sonderbar! Unwillkürlich mußte sich Max plötzlich eines wunderschönen lehrreichen Buches aus der Quarta-Bibliothek erinnerin. Es war eine Seeräubergeschichte, und das mit bunten Tondruckbildern versehene Buch berichtete von zwei sich zärtlich liebenden Geschwistern, die zusammen eine Reise über das Mittelländische Meer machten und daselbst von einem Piratenschiff angefallen wurden. Der Bruder, der die Schwester natürlich heldenmüthig vertheidigt, fiel im blutigen Kampfe, während das arme Mädchen von einem Corsaren geraubt und auf den Sclavenmarkt nach Algier geschleppt wurde.

Und wie man hienieden nicht ungestraft unter Palmen wandelt, so liest man auch nicht umsonst solch schöne Räubergeschichten. Es schien sich mit einem Male ein erneuter innerer Contact zwischen dem Buche in der Quarta-Bibliothek und dem semmelblonden Kopfe des glücklichen Obertertianers zu entspinnen, und weil das Contagium vermuthlich nicht allzu viel Gehirnmasse fand, so hatte es dafür um so mehr Platz sich auszubreiten. Wie – wenn Miezen ebenso geschehen wäre? Sie konnte doch unmöglich verloren sein wie ein Paket?

Der Schwager aber hatte sich vorsorglich gleich eine Andere mitgebracht und schnell geheirathet. Wo er die nur so schnell herbekommen hatte? Sie schien noch jung zu sein, ungefähr so, Wie die „Damen“ in der Tanzstunde und auf den „Lämmerbällen“ und hätte eigentlich besser für ihn selbst gepaßt.

Ungefähr soweit war Max mit seinen Reflexionen gekommen, und es war ihn, dabei ganz wirbelig geworden, ähnlich wie vorhin, als er gegen Frau Nährkorn angerannt war. Da stand er am Marktplatz vor dem Giebelhause der Eltern.




7.

„Daß Du ein Dummkopf seiest, habe ich leider schon lange gewußt, daß Du aber auch ein halber Tollhäusler bist, entdecke ich erst heute!“

Mit solchen Kernworten suchte der Stadtrath das sich weiter und gefährlich ausbreitende giftige Contagium zu verflüchtigen. Wie eine wohlthätige kalte Douche fiel es auf vier erhitzte Köpfe herab.

Dennoch saßen die Anwesenden, wenigstens die weiblichen – Großmama-Medicinalräthin, Tante Bertha und die Stadträthin – noch immer wie erstarrt bei einander, während Max mit dem Rücken die Thür suchte, theils um einem zweiten, vielleicht noch kälteren Bade zu entgehen, theils um den phantasiereichsten und productivsten römischen Dichter, welchen er noch immer krampfhaft in der Hand hielt, vorerst in seiner „Bude“ in Sicherheit zu bringen.

„Bitte, liebe Frau, laß doch die Suppe herein bringen! Ich habe tüchtigen Appetit diesen Mittag,“ fuhr der Stadtrath in gleicher, glücklicher, kühler Tonart fort. „Willst Du nicht so gut sein und klingeln,“ wiederholte er lauter, als die Stadträthin sich noch immer nicht erhob. „Großmama und Tante Bertha, die mit uns essen werden, wünschen die Eßstunde nicht hinauszuschieben –“

„Mann – ich begreife Dich nicht!“ stöhnte die Stadträthin.

„Und ich Dich noch weniger – so wenig, daß ich gar nicht über die Sache reden mag! Doch verspreche ich dafür Dir binnen zwei Stunden Aufklärung des – Mißverständnisses zu bringen! Jetzt, wie gesagt, wollen wir zu Tische gehen! Liebe Mama, darf ich bitten? … Nach der Suppe muß ich schon selbst klingeln. …“

Damit war die Stadträthin dem Gatten indessen doch gewohnheitsmäßig zuvor gekommen. Auch hatte sie ihren Platz wie sonst eingenommen. Das Vorlegen mußte aber der Gatte über nehmen, dazu war sie vollkommen unfähig. Auch im Essen bestrebte er sich mit gutem Beispiele voranzugehen, wenigstens anfangs, später schien er gleichfalls zu erlahmen. Nur Max, der den Ovidius Naso glücklich in Sicherheit gebracht hatte, leistete das Seinige. Beim Dessert war der Stadtrath plötzlich verschwunden. Und Jeder ahnte, wußte, wohin er die Schritte gelenkt hatte.

Fünfzehn Minuten später war er draußen im Westend und stand im Hause des jungen Ehepaares. Bevor er die Treppe hinanstieg, trocknete er sich den Schweiß von der Stirn, den ihm die rasche Bewegung oder die – Angst ausgepreßt hatte. … Jetzt zog er die Glocke. Ein leichter flüchtiger Schritt tönte von drinnen an sein Ohr. Er lauschte gespannt, athemlos … jetzt öffnete man innen, und eine schlanke Frauengestalt flog ihm entgegen und lag an seiner Brust.

„Väterchen, liebes Herzensväterchen!“




„Thörichte Kinder, weshalb seid Ihr nicht öffentlich zu Hause geblieben? – Die ganze Geschichte hört sich an wie ein Lustspiel und hat mir dennoch, jetzt will ich’s gestehen, heimlichen Angstschweiß ausgepreßt!“ sagte eine Viertelstunde später der Stadtrath, wie erlöst, als er trotz vielfachen Zwischen- und Durcheinandersprechens endlich den Sachverhalt kennen gelernt hatte.

„Ich trage eigentlich die Schuld!“ sagte Marie beschämt.

„Oder ich – wenigstens will ich sie nur gleich auf mich nehmen – Einer muß doch der Sündenbock sein!“ sagte Fritz, der über die Studentenlieder und Käte das rechtzeitige Weggehen vergessen hatte und über Mittag geblieben war. „Ich stieß die rollende Kugel vollends den Abhang hinab.“

„Um des glücklichen Endes willen sei Euch verziehen, kommt aber nun eilig, damit auch Mama aus ihrer Sorge befreit wird.“ –

„Und einen ganzen Selectacursus im Haushalten habe ich durchgemacht, liebe Mama!“ sagte Marie mit stolzer Würde, als

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verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_418.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)