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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„So kommt!“ versetzte Vilmut ebenso kurz, indem er ihm einen Wink gab, einzusteigen.

Werdenfels reichte seinem Neffen, der ihm gefolgt war, zum Abschied die Hand.

„Leb wohl, Paul! Und wenn ich nicht zurückkehren sollte – stehe meiner Anna zur Seite. Sie findet ja jetzt einen Bruder an dem Gatten ihrer Schwester.“

Der junge Mann antwortete nur mit einem Händedrucke. Es fehlte ihm nicht an Muth, die Gefahr zu bestehen, aber das angstvolle Weinen seiner kleinen Lily konnte er nicht ertragen. Er begriff nicht, wie Raimund sein so schwer errungenes Glück auf das Spiel setzen konnte, um fremdes Leben zu retten, und begriff die Braut nicht, die ihn von ihrer Seite ließ.

Werdenfels winkte noch einen Gruß hinauf zu der Höhe, wo Anna an der Seite ihrer Schwester stand, dann nahm auch er seinen Platz am Steuer ein. Die ersten Ruderschläge trieben das Boot hinaus in das Wasser und nach kurzer Fahrt erreichte es die Strömung, die es sofort ergriff.

Das kleine Fahrzeug schwankte wie vom Sturme erfaßt und drehte sich im Wirbel. Es war in höchster Gefahr umzuschlagen, aber die beiden Rudernden setzten ihre volle Kraft ein, und das Steuer lag in den Händen Raimund’s, in diesen weißen durchsichtigen Händen, die so kraftlos aussahen, und die doch die Macht besaßen, den wilden Emir zu bändigen und ihn bei jenem tollkühnen Sprunge über die Schlucht zu zügeln. Sie bewährten sich auch hier. Nach einem minutenlangen Kampfe mit den Wellen hatte das Boot die Richtung gefunden und schoß nun reißend schnell dahin, inmitten von Baumstämmen und Mauertrümmern, die es bei jedem Anprall zerschmettern konnten.

Mit dem Aufhören des Regens war auch die Luft klarer geworden. Die Berge, die man seit drei Tagen nicht gesehen hatte, begannen sich zu entschleiern, aber während dort oben ein Gipfel nach dem anderen emportauchte, sank der Nebel tiefer auf die Niederung und ballte sich dicht zusammen über der Wasserfläche. Das Fischerhaus entzog sich vollständig den Blicken und auch das Boot war nur kurze Zeit noch sichtbar, dann verschwand es gleichfalls in dem schweren, trüben Dunst. Die Zurückgebliebenen hatten nicht einmal den Trost, die kühne Rettungsfahrt verfolgen zu können.

Dagegen kamen vom Dorfe jetzt bessere Nachrichten herauf. Auch oberhalb des Durchbruches wuchs die Fluth nicht mehr, sie schien endlich ihren Höhepunkt erreicht zu haben, und damit hörte auch das wilde Nachstürzen der Wassermassen auf. Sie fingen an, sich zu beruhigen, es war jetzt wenigstens möglich, mit dem Boote zurückzukehren, wenn man die Hauptströmung vermied; ein Wagniß blieb es immer. –

Beinahe zwei Stunden waren vergangen, und schon begannen die ersten Schatten der Dämmerung aufzusteigen. Die ganze Niederung wallte und gährte jetzt im weißgrauen Dunst, und daraus hervor gurgelte und rauschte das Wasser. Vielleicht kämpften dort hinter jenem Nebelvorhang die Bedrohten und die Retter zugleich ihren Todeskampf, und Niemand konnte ihnen zu Hülfe kommen, kein Blick, kein Ruf konnte sie erreichen!

(Schluß folgt.)




Deutschlands merkwürdige Bäume.

3.0 Der Luther-Baum bei Worms.

Worms ist ein Fleck deutscher Erde, wo ein Blick die Male und Marksteine von Jahrtausenden überschaut und von den Werkstätten einer aufblühenden Gegenwart in das Nebelgrau ungemessener Fernen der mythischen Zeit schweift. Wie lange mag die heilige Keltenstadt sich in den Fluthen des Rheinstroms gespiegelt haben, bevor sie von römischen Pionieren entdeckt wurde! Borbetomagus, Augusta Vangionum, Burgundersitz, Nibelungenstadt, Merovingerresidenz, Karolingerpfalz, Haupt Rheinfrankens, auf bevorzugtem Boden des Ostreichs, wo die deutschen Könige gewählt werden mußten, von wo sie aus-, wohin sie sich zurückzogen, – wohin die Maiversammlung der alten, der Reichstag der späteren Zeit zumeist berufen wurde, auch jener, auf welchem das welterschütternde Wort erscholl: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ – Cultur und Geschichte haben sich hier in großen Zügen eingezeichnet, kein Fleck ohne Ueberlieferung, „kein Stein ohne Namen“! Der geflügelte Drache im Wappen, der Sigfridstein, der Rosengarten und andere Erinnerungen an das Heldenbuch und germanische Urzeit; der romanische Dom in seiner unvergleichlichen Zusammenwirkung von Thürmen, Kuppeln, Thor und Schiff des mächtigen rothen Quaderbaues mit noch unenträthselter Bildnerei und dem Denkmal der fränkischen Nornen, der drei königlichen „Heilräthinnen“; und dort die rothe Sandsteinmauer des Bischofhofes, in welchem der Mönch von Wittenberg vor Kaiser und Reich so herzhaft als folgenreich bei seiner Ueberzeugung beharrte; auch die düstere Synagoge, deren Gewölbe schon zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft hier eine Gemeinde Israels gesammelt haben sollen; und so manches Andere macht die auch heute noch so „wunnesame“ Stadt am Rheine zu einem Wallfahrtsort für jeden Glauben, jedes Streben.

Und welche Umgebung! Der Strom hat dieselbe, sein altes Bett suchend, verderbenbringend, wie er im Nibelungenlied erscheint, wieder heimgesucht, und ich könnte Einiges berichten von Lorsch und Edigheim, dem alten Otenheim – „da fließet noch der brunne“, wo Sigfrid erschlagen ward – was auf die Nibelungenfrage ein neues Licht würfe; doch weist meine Aufgabe auf eine andere Epoche Wormser Lebens, auf die Reformationszeit.

Gleich am Eingange der Stadt erhebt sich das herrliche Denkmal, von welchem Luther’s markige Gestalt in die moderne Welt blickt. Ein anderes Denkmal des großen Glaubenskämpfers verdankt nicht der Kunst sein Dasein und galt drei Jahrhunderte hindurch als das einzige: der Luther-Baum oder die Luther-Ulme bei dem nahen Dorfe Pfiffligheim. Man gelangt dahin mit der Bahn in wenigen Minuten, aber auch zu Fuß braucht man keine halbe Stunde. Worms, einst die volkreichste deutsche Stadt, breitet sich jetzt als kräftig wachsender Sitz der Großindustrie immer weiter im alten Weichbild aus, rückt auch dem Luther-Baum immer näher. Vor Jahren, da ich diesen zum ersten Mal sah, stand er noch außerhalb des Dorfes im fruchtbaren Gelände mit der Aussicht auf die alte Stadt, den Odenwald mit dem Melibocus. Aber auch heute noch hat man von dem Ruhesitz unter seinem Laubdach den alten Dom gerade vor sich.

Wie anderwärts die Linde, so wird ringsum im Gebiet der Vangionen (dem alten Wonnegau, aus welchem genau nach Westen der Donnersberg seinen „Elephantenrücken“ über den Pfrimmgrund erhebt) die Ulme oder Rüster als Weihbaum vor den Dörfern, auf Kirchhöfen und an denkwürdigen Stätten angepflanzt. Dafür zeugt die 150 Fuß hohe Riesenulme bei Guntersblum und so manche andere, auch die sturm- und wettergewohnte Ulme über dem Königskreuz bei Göllheim (wo im Anblick des Donnersbergs Adolf von Nassau im ritterlichen Kampf mit dem Gegenkaiser fiel), obwohl ihr der Gott des nahen mons Jovis (Berg des Donnergottes Jupiter) mit seinen Blitzen den besten Theil der Krone zerschmettert hat.

Alle überragt jedoch an Alter, Größe und Berühmtheit die Pfiffligheimer Luther-Ulme. Sie übertrifft an Stammumfang nicht blos die großen wipfeldürren Rüstern am Kuhthurm bei Leipzig um mehr als das Doppelte, sondern auch die bekannte Rüster von Hampstead in Middlesex, welche Roßmäßler, und nach ihm alle Welt, als die größte Ulme bezeichnet hat, um mehrere Fuß. Denn der Umfang des Stammes über dem Boden beträgt elf Meter und mißt weiter oben, über dem Geländer, noch immer neun Meter. Vor Jahren erfüllte mich der Anblick der ehrwürdigen Rüster mit Staunen, nicht blos deren gewaltige Stammesstärke, sondern die himmelstürmende Höhe, der hochragende Wipfel des majestätischen Baumes – und wie kein anderer hat mir die Luther-Ulme das Bild des heiligen Weltbaumes der Edda vergegenwärtigt.

Schon an sich ist die Rüster, wenn auch ungesellig, keineswegs der trübe und mürrische Baum, wie ihn empfindsame Naturschilderung dargestellt hat, sondern zumeist von malerischer Schönheit. Die durchfurchte, zerrissene Rinde und die derbknorrige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_452.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2024)