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verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

man beobachtete alsbald, daß die Wandernden ihre Marschrouten nach den vorhandenen, ihnen wohl bekannten Vereinen einrichteten und oftmals einen besonderen Abstecher per Bahn machten, um sich das Ortsgeschenk zu holen. Die Unterstützung betrachteten sie als eine berechtigte Forderung. Es wurden daher Stimmen laut, welche in den Vereinen geradezu eine amtlich beglaubigte Unterstützung des Vagabondenwesens erblickten. Mit der Zeit gingen auch viele Mitglieder wieder ab und die Vereine zumeist ihrer Auflösung entgegen.

Da in den Händen der Privaten die Sache nicht einschlagen wollte, so kam man in einigen Gegenden dahin, diese Antibettelvereine in Gemeinde-Institute zu verwandeln. Die Gemeindebehörden zahlten aus dem durch freiwillige Beiträge der Einwohner erweiterten Fonds der Ortsarmencasse kleine Geldgeschenke an die armen Reisenden. Ein Ortsanschlag verkündete den letzteren gleich beim Eintritt in’s Dorf – die Einrichtung wurde namentlich von Landgemeinden angenommen (als ob die Vagabonden dies nicht längst gewußt hätten!) – daß das Betteln verboten sei. Allein auch hier trat die Unzuverlässigkeit der Privaten und der Mangel einheitlicher Durchführung störend dazwischen. Die ohnedies nicht scharfe Ortspolizei wurde lässig und „die armen Reisenden wurden bald wieder Herren der Lage und lachten bei ihren Schnapsgelagen in den Herbergen über die dummen Bauern, welche ihnen noch aus der Gemeindecasse Geld zu einem lustigen Abende gewährten“.

Man suchte nun das Institut zu seiner besseren Kräftigung auf ganze Bezirke auszudehnen. Dies geschah zuerst im Königreich Sachsen, in den Jahren 1880 und 1881. Dort nahmen einzelne Amtshauptmannschaften die Sache in die Hand und organisirten das Geschenkwesen für ihre Bezirke theils durch freie Vereinigung der Gemeinden, theils dadurch, daß sie die Unterstützung zu einer Angelegenheit des Bezirks machten. Um Mißbrauch zu verhüten, werden die Gaben an beschränkten, in einer Entfernung von etwa zwei Stunden von einander getrennten Gabestellen verabfolgt; der Aufwand wird als eine Art Bezirkssteuer aufgebracht und auf die Gemeinden repartirt. Voraussetzung für die Unterstützung ist Bedürftigkeit und der Besitz einer genügenden Legitimation. Zur Sicherstellung der Einrichtung gegen den Wankelmuth des Publicums wurde dem letzteren die Verabreichung von Gaben an Bettler verboten.

Durch diese Einrichtung wurde der Hausbettelei in den betreffenden Districten fast ganz gesteuert; die Zahl der armen Reisenden ging zwar nach einem vorliegenden Berichte vom Jahre 1882 nicht erheblich zurück, aber die Qualität derselben wurde besser, das heißt die professionirten Stromer mieden die Bezirke. Dadurch wurden diese Bezirksvereine freilich gewissermaßen zu Abwehranstalten, welche die Reisenden in andere Bezirke trieben.

Der Hauptmangel auch dieser Einrichtung ist aber der, daß die Geschenke mit wenigen Ausnahmen in Geld gegeben wurden. Geld bleibt in der Tasche des Vagabonden aber immer ein bedenklicher Besitz, denn er wird es in den meisten Fällen nicht zu Kost und Kleidung, sondern zu Trunk und Spiel verwenden. Die Erkenntniß der Gefährlichkeit der Geldunterstützung hat in einzelnen Gegenden, namentlich in Württemberg, die Einrichtung der Naturalunterstützung für die armen Reisenden hervorgerufen. Ihrer Einführung ging eine Versammlung der Bezirkswohlthätigkeitsvereine und der weltlichen und geistlichen Bezirksbehörden aller Oberämter in Cannstatt voraus. In dieser, am 24. November 1880 abgehaltenen Landesversammlung wurden auf Grund der gewonnenen Erfahrungen eine Anzahl sehr beherzigenswerther Thesen aufgestellt, von denen wir nur folgende hervorheben:

1) Die Unterstützung Durchreisender hat ausschließlich nur durch Gewährung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse und, soweit ausführbar, gegen Arbeitsleistung zu geschehen. Unmittelbare Geldspenden müssen unbedingt aufhören.

2) Diese Unterstützung soll nicht von einzelnen Einwohnern verabreicht werden, sondern in erster Linie von der Gemeinde oder einer Unterstützungsstation.

3) Kost und Nachtquartier sind zu gewähren gegen eine dem Bittenden eingehändigte Marke in einer hierzu bestimmten Speise-Anstalt und Herberge.

4) Kleidung soll nur gegen entsprechende Arbeitsleistung abgegeben werden, um den Wiederverkauf derselben zu verhüten.

5) Zur Beschaffung von Arbeit empfiehlt sich ein Nachweisbureau von offenen Arbeitsstellen.

Die Organisation der Naturalverpflegungs-Einrichtungen erfolgte nunmehr nach zwei Systemen. In einigen Bezirken wurde das Gemeindesystem, das heißt die gemeindeweise Unterstützung, in anderen das Stationssystem eingeführt, bei welchem die Naturalverpflegung in einer Anzahl im Bezirke eingerichteter Stationen erfolgte. Die Verpflegung geschieht dabei in folgender Weise:

Die durch öffentliche Anschläge vor Bettel und Umschau gewarnten Reisenden haben sich an den Ortsvorsteher oder an einen besonderen Anweisungsbeamten zu wenden, ihre Legitimationspapiere vorzuweisen und Karten oder Marken in Empfang zu nehmen, welche auf Speise oder Nachtquartier oder aus beides lauten. Die Verpflegung geschieht theilweise in den christlichen Gesellenherbergen oder Herbergen zur Heimath, meistens aber in sonstigen Wirthshäusern. Den Wirthen ist bei Conventionalstrafe verboten, für die Anweisungskarten oder Marken geistige Getränke abzugeben. Die Verrechnung mit den Wirthen geschieht auf Grund der erhaltenen Anweisungskarten, welche der Anweisungsbeamte nach seinem Verzeichnisse controlirt. Außerdem wird durch Arbeitsnachweisungsbureaus und die Karten- oder Markengeber dafür gesorgt, daß die Reisenden eine bei den Gewerbetreibenden oder Landwirthen vorhandene Arbeitsgelegenheit erfahren.

Auch diese Württemberger Einrichtung hatte die besten Erfolge. Die schlechteren Elemente der armen Reisenden wurden fern gehalten; die Schnaps- und Bierorgien in den Herbergen hörten auf; die Hausbettelei verschwand, und die öffentliche Sicherheit nahm zu.

Doch macht man auch diesem System den Vorwurf, daß es die Gewährung der Naturalunterstützung nicht von der Leistung der Arbeit abhängig macht, sondern die letztere nur anbietet. Es könne namentlich bei schlechter Lage des Arbeitsmarktes dennoch vorkommen, daß sich der Reisende ohne eine Gegenleistung längere Zeit, wandernd von Ort zu Ort, ernähren lasse. Das könne auf dessen Charakter keinesfalls günstig einwirken. Deshalb stellten neuere Versammlungen von Fachmännern den theoretisch jedenfalls richtigen Grundsatz auf, daß das rechte Mittel zur wirksamen Bekämpfung des Vagabondenthums sei: organisirte Unterstützung durch Naturalverpflegung gegen Arbeitsleistung.

Vereinzelt hatte man schon die Forderung einer Arbeitsleistung als Voraussetzung der Unterstützung aufgestellt, so namentlich in einzelnen Antibettelvereinen. Man hatte z. B. den Empfang einer Freikarte des Vereins davon abhängig gemacht, daß Jeder anderthalb Stunden lang Holz zerkleinere oder Steine klopfe. Dadurch hatte man jedoch erreicht, daß die Freikarten weniger Abnehmer fanden, ein dauernder Effect hätte nur erzielt werden können bei einer Organisation im Großen, durch Errichtung von Centralarbeitsstellen, namentlich auf dem Lande, und durch Nachweisungsbureaus in den Städten.

Ein praktisches Beispiel für die Durchführung dieses Gedankens bildet die auf Anregung des Pastors Bodelschwingh in Bielefeld in’s Leben gerufene Arbeitscolonie Wilhelmsdorf. Sie hat den Zweck, arbeitslustige und arbeitslose Männer jeden Alters, jeder Confession und jeden Standes, so weit sie wirklich noch arbeitsfähig sind, so lange in ländlichen und anderen Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweitig lohnende Arbeiten zu beschaffen und ihnen so die Hand zu bieten, vom Vagabondenleben los zu kommen, und damit zugleich arbeitsscheuen Vagabonden jede Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten.

Zu diesem Zwecke wurden durch die Provinzialstände Westfalens zunächst drei Bauernhöfe in der Senne von circa fünfhundert Morgen angekauft. Die Arbeit besteht vorzüglich in Spatencultur und dem Anbau von Handelsculturpflanzen und Gartenfrüchten; zur Winterszeit im Urbarmachen des unbebauten Sennelandes und Aufbrechung des Ockers, sowie in Wiesenbauten; für die kurze Zeit, wo die ländliche Arbeit feiert, in Flechten von Matten und Körben. Mit jedem Eintretenden wird nach dem Maße seiner Leistungsfähigkeit ein Lohncontract gemacht. Hat der Arbeiter soviel verdient, daß er wieder eine saubere Kleidung und eigenes Arbeitszeug besitzt, so wird möglichst dafür gesorgt, daß er außer der Anstalt Arbeit bekommt, durch ein mit dieser verbundenes Arbeitsnachweisebureau.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_472.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2024)