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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Platze zurecht rückte und sich neugierig in dem Theater umsah, das er heute zum ersten Mal betreten, hörte er die ältere der Damen sagen:

„Sieh, Rosa, das ist die himmlische Stelle im Vorspiel, auf die ich Dich besonders aufmerksam mache. Hier – die Figur in As-dur 4/4 Tact mit der Tremolandobegleitung - hast Du es? O, ergreifend!“

Der zarte Spitzenfächer, den Rosa unablässig bewegte, ruhte einen Augenblick, während sie sich gehorsam nach der Seite der Mama über das Buch beugte und die gefeierte Stelle mit den Augen suchte, aber matt und klagend kam es von ihren Lippen:

„Ah, es ist so furchtbar heiß hier!“

„Nun, Rosa, das ist doch in diesem Augenblick Nebensache,“ wurde vorwurfsvoll erwidert.

Der Fächer spielte weiter, und Rosa seufzte leise, Alfred Berger aber ließ sich diese vorzügliche Gelegenheit zum Anknüpfen eines Gespräches nicht entgehen und wagte eine bestätigende Bemerkung über die Temperaturverhältnisse. Er wurde durch eine kleine Erwiderung beglückt in der halb befangenen, halb reservirten Weise, die sehr junge, wohlerzogene Damen bei der Annäherung Fremder anzunehmen pflegen. Weitere Conversation wurde jetzt unwillkürlich gehemmt, als plötzlich tiefe Dunkelheit das zuvor glänzend erleuchtete Haus überschattete. Die angenehme Kühle, welche anfangs in dem riesigen Raume herrschte, war, nachdem die Tausende von draußen hereingeströmt, längst entflogen, und unter schwüler, erstickender Hitze begannen aus der unsichtbaren Tiefe des Orchesters die ersten geheimnisvoll fesselnden Töne des Vorspiels zum „Parsifal“ aufzuschweben.

Doch wer hat noch Sinn, an irdische Drangsal, an Hitze und Mattigkeit zu denken, wenn die weihevollen Klänge des Gralmotivs, siegreich die elegische Klage der Schuld und des Leidens bekämpfend, erschallen, wenn endlich der Vorhang vor der Bühne sich getheilt und Gurnemauz-Scaria mit der mächtig tönenden Stimme die schlummernden Knappen erweckt hat? Wohl dauert er einunddreiviertel Stunden, der erste Act des „Parsifal“, aber Zeit und Raum sind verschwunden für die athemlos lauschende und schauende Menge, welche den „thörichten Reinen“ in die Wunderwelt des Gralheiligthums begleitet.

Sowohl Alfred Berger, wie seine jugendliche Nachbarin hatten von Anfang bis zu Ende in höchster Spannung das auf der Bühne Dargebotene verfolgt, und Mamas Gesicht strahlte in höchster Begeisterung, als der Vorhang sich schloß und das blendende Gaslicht den Zuschauerraum wieder überfluthete, aus dem jetzt Alles hinaus eilte.

„Ach bitte, liebe Mama, laß uns schnell fort,“ drängte Rosa, da erstere noch beschäftigt war, allerlei geheimnißvolle Manipulationen mit den Blättern der Partitur vorzunehmen.

„Gleich, gleich, Kind. Ich breche nur schnell die Seiten ein, auf denen die schönsten Stellen vorkommen, damit wir sie gleich nachlesen können, so lange sie uns noch frisch im Gehör sind.“

„Vor allen Dingen wollen wir zusehen, daß wir etwas zu trinken bekommen, denn ich verschmachte beinahe,“ jammerte das Töchterchen, während Beide in dem hinausfluthenden Gedränge mit fortgeschoben wurden.

Gaslicht und Theaterraum erweckten unwillkürlich die Illusion, draußen, wie nach sonstigen Vorstellungen, Dunkelheit und Kühle zu finden, und erst als man auf den von grell heißem Sonnenlicht durchglühten Festplatz trat, erinnerte man sich halb verwundert, halb enttäuscht, daß ja die Uhr kaum die sechste Nachmittagsstunde zeigte.

Der von allen Treppen und Thüren hervorquellende Menschenstrom hatte gleich nach dem Verlassen des Gebäudes Alfred Berger von seinen Nachbarinnen getrennt, und dieser wandelte nun belustigt einige Zeit unter dem bunten, alle Sprachen und Nationalitäten vereinigenden Gewühl umher, in dessen einzelnen Gruppen allerwärts die eben gehabten Eindrücke in erregtem Meinungsaustausch, mit enthusiastischen Lobsprüchen, oder auch hier und da mit kopfschüttelndem Tadel, besprochen wurden. Nachdem er in einem der beiden Restaurationszelte mit Mühe einen frischen Trunk erobert hatte, schlenderte er auch hinüber nach dem größeren und eleganteren Restaurant des Festplatzes.

Hier entdeckte er, an einem Seitentischchen der Veranda, die beiden bekannten Damen, die Mutter schon wieder über die unvermeidliche Partitur gebeugt, indeß die Tochter eben mit matter, schüchterner Stimme einem Kellner nachrief, dessen Frackschöße bereits um die nächste Ecke verschwanden.

Sofort trat der junge Mann an den Tisch und frug, mit höflichem Anstand seinen Hut ziehend:

„Kann ich Ihnen vielleicht zur Erlangung einer Erfrischung behülflich sein, mein Fräulein?“

„Ach ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Güte haben wollten. Die Kellner stürzen immer so schnell vorbei und hören nicht, wenn man sie ruft.“

Die schwarzen Fracksittige flatterten soeben in geringer Entfernung vorüber, wendeten aber augenblicklich und nahmen ihren Flug auf Alfred Berger zu, als dieser in männlich befehlendem Tone ein „Kellneeer!“ donnerte.

Nach kurzer Besprechung mit der jungen Dame:

„Schnell eine Flasche Selterwasser und eine Flasche Rothwein, aber sogleich, die Damen warten schon seit einer Viertelstunde!“

In weniger als einer halben Minute stand das Verlangte auf dem Tische. Alfred mischte selbst den Trank und sah mit andächtiger Befriedigung zu, wie das arme durstige Kind dankbaren Blickes das Glas ergriff und es hastig leerte. Selbst die Mama ließ sich jetzt durch das Sprudelmotiv der Flaschen aus ihren musikalischen Forschungen reißen und nahm einen Trunk.

„Sehr freundlich von Ihnen, mein Herr, daß Sie uns schon wieder zu Hülfe gekommen sind,“ bemerkte sie. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

Der liebenswürdige Zufall hatte nämlich für einen dritten, leerstehenden Stuhl gesorgt.

„Erlauben die Damen zuvor, daß ich mich Ihnen vorstelle: Alfred Berger, Referendar aus Leipzig.“

„Commerzienräthin Jung aus Berlin, meine jüngste Tochter Rosa.“

„Also Rosa Jung,“ dachte Alfred. „Sie trägt ihren Namen in der That, denn jung ist sie, und wie ein Röschen ist sie mir gleich erschienen.“

Die Unterhatung wurde nun von der Commerzienräthin mit einigen Präludien über die Aufführnug eingeleitet, wobei sich Alfred mit verschiedentlich eingestreuten „Wundervoll!“ „Ganz ausgezeichnet!“ „Wirklich ergreifend!“ abzufinden suchte, da er sich der Motivkenntniß der partiturfesten Dame durchaus nicht gewachsen fühlte. Er war, wie wir vorhin gehört, seines Zeichens ein Jurist, mit liebevollem Interesse und leidlichem Verständniß für Musik im Allgemeinen und Wagner-Opern im Besonderen begabt. Auf einer Ferienreise nach der Schweiz begriffen, die ihn in nächster Nähe an Bayreuth-Olympia vorüber führte, wollte er sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Aufführung in Richard Wagner’s viel berühmtem und besprochenem Bühnentempel anzuhören. Wie viele Andere, gehörte er zu der Classe jener Harmlos–Neugierigen, welche bereit sind, die in Augen und Ohren fallenden Schönheiten Wagner’scher Bühnenspiele freudig anzuerkennen, ohne daß sie in die tiefsten Geheimnisse symphonischer Ton- und Themataverschlingungen eingedrungen wären. Auch Fräulein Rosa schien in diesem Punkte noch nicht auf der Höhe des Verständnisses und des Enthusiasmus angelangt, denn sie erklärte der Mama, als diese behufs weiterer Auseinandersetzungen die Partitur wieder öffnete, sie wolle die Pause lieber zur Erholung benutzen, da sonst ihre Kräfte und namentlich ihre Augen für die kommenden Stunden nicht ausreichen würden.

„Ich glaube, Sie gebrauchen das Opernglas zu häufig und anhaltend, gnädiges Fräulein,“ erlaubte sich Alfred Berger zu bemerken.

„Dieses junge Geschlecht kann doch gar nichts aushalten,“ schalt die Commerzienräthin dagegen. „Nimm Dir ein Beispiel an mir, Kind, die ich bei solchen Genüssen weder an Speise und Trank, noch an Hitze und Müdigkeit denke.“

„Ja, liebe Mama, Du hast aber auch während der Fahrt die ganze Nacht geschlafen, während ich leider im Eisenbahnwaggon nie ein Auge schließen kann,“ wandte Rosa ein.

„Wie, die Damen sind die vorhergehende Nacht durch und dann wohl gar noch den halben Tag gefahren?“ frug Alfred erstaunt. „Es ist allerdings eine starke Anforderung an zarte weibliche Nerven, gleich darauf sechs Stunden im Theater zubringen zu müssen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_482.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)