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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Mode und Kleiderreform in England.

Eine gesellschaftlich-hygienisch-sittengeschichtliche Skizze.
Von Leopold Katscher in London.

1. 0Das Uebel.

„Geh’ doch! Gott hat dir eine Gestalt
gegeben und du machst dir eine andere.“
 Shakespeare.

„Die Mode bekümmert sich nicht um die
Physiologie.“ The Lancet“.

Die Männer haben längst erkannt. daß den sinn- und zwecklosen Wandlungen der launischen „Göttin Mode“ keine erhebliche Rolle gebührt in den ernsten Beschäftigungen eines menschenwürdigen Lebens; sie sind daher in ein Stadium relativer Eintönigkeit und Stetigkeit in Sachen der Kleidung eingetreten, wenn es auch unter ihnen noch Ausnahmen giebt, die gewissen Thorheiten nachgehen. Bei den Damen trifft gerade das Entgegengesetzte zu: unter ihnen giebt es nur wenige, die vernünftig und muthig genug sind, das Joch übertriebener Eitelkeit abzuschütteln.

Die Weiber des civilisirten Abendlandes sind in Sachen der Kleidung ärger als die Wilden. Die erste Idee von einem Bekleidungswesen ging nicht aus der Nothwendigkeit eines Schutzes oder aus einem Bedürfniß nach Bequemlichkeit, sondern aus Putzsucht hervor und äußerte sich im Tättowiren, im Bemalen des Körpers, im Tragen von Federn oder Perlen. Je civilisirter der Mensch wurde, desto mehr sah er bei seiner Kleidung auf Bequemlichkeit, Gesundheit und Schutz, desto weniger auf Verzierung. Der Wilde, dem der Begriff „Kunst“ aufdämmert, beeilt sich noch heute, sie zu einem Theil seiner eigenen Person zu machen, sei es, daß er sich Wunden beibringt, um in bestimmter Anordnung eine Reihe von Narben aufweisen zu können, sei es, daß er die Kunst des Malers oder die des Bildhauers an seinem Körper ausübt. Der civilisirte Mensch dagegen hat gelernt, die Kunst von seiner Person zu trennen und sie als separate Darstellung zu bewundern. Er hängt in seinen Zimmern Bilder und sogar Vorhänge und Draperien auf; es fällt ihm aber nicht ein, diese Dinge an sich zu tragen.

Und doch halten viele Frauen eine solche wildenähnliche Schaustellung an der eigenen Person nicht für unwürdig, machen ihre Kleidung zu einem Mittel, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken soll, und erziehen sich daher selbst zur Unbescheidenheit, Eitelkeit und Gefallsucht. Sie denken bei der Wahl ihrer Kleidung weniger an deren Hauptzwecke – Schutz, Gesundheit, Bequemlichkeit – und mehr an den äußeren Putz und Tand. Die meisten thun es unbewußt, weil sie zu unwissend sind, und diejenigen, die zu einer besseren Erkenntniß gelangt sind, haben nicht den Muth ihrer Ueberzeugung, wagen nicht, sich zu emancipiren von der Tyrannei der Mode. Und so bleibt es dabei, daß die Frauen Kleider tragen, die ihrer Gesundheit dauernd schaden und mithin ihre mechanische Arbeitsfähigkeit, sowie das Maß ihrer geistigen Leistungsmöglichkeit herabsetzen.

Der ewige Modenwechsel wäre noch kein so arges Unglück, ließe sich nur wenigstens sagen, daß die Wandlungen aus einer gesunden Wurzel herauswüchsen. Aber das läßt sich eben leider in keiner Weise sagen – ganz im Gegentheil. Darum wollen wir uns hier nicht weiter mit den freilich streng zu verdammenden Wandlungen der Mode, sondern ausschließlich mit den allen Moden der Jetztzeit zu Grunde liegenden allgemeinen Principien beschäftigen. Von der Art, wie man sich keidet, hängt so unendlich viel ab, daß diese Frage unbedingt zu den wichtigsten gehört, mit denen ein Menschenfreund sich würdig beschäftigen darf und – soll.

Zahlreiche Männer sind der Ansicht, daß es nicht Männersache sei, sich um Frauentoiletten zu bekümmern; das ist falsch. Wo es sich um die Gesundheit von Gattinnen, Schwestern und Töchtern handelt, hat jedes Mitglied des starken Geschlechts das Recht und noch mehr die Pflicht der Intervention, um so eher als von der Lösung dieses Problems zum Theil ja auch das Wohl oder Wehe seiner Enkel und Urenkel abhängt.

Die weibliche Tracht der civilisirten abendländischen Kreise ist keine nützliche Dienerin, sondern eine strenge Herrin, die ihre Unterthaninnen zwingt, sich den Leib zu kasteien, daß heißt zu quälen und zu verunstalten. Die jetzigen Moden stehen zur Vernunft etwa in demselben Verhältniß, wie der Aberglaube zu einer geläuterten Naturreligion. Ein seltsamer Etiquettencodex, eine merkwürdige, inconsequente „sociale Kleiderordnung“ wird schablonenhaft und gedankenlos befolgt. Man geht z. B. auf den Ball oder auf eine Soirée ohne Unterschied des Wetters, selbst im Winter, stark decolletirt, während es für unstatthaft gilt, vor sechs oder sieben Uhr, im eigenen Familienkreise, selbst am heißesten Sommertage, sich in einem ausgeschnittenen Kleid zu zeigen.

Der Hauptgrund, warum die verkehrte Eitelkeit, die falsche Sucht nach nicht vorhandener Schönheit den Sieg über die Vernunft davongetragen, ist wahrscheinlich der Umstand, daß die Lenker des Modenwesens schlechte Anatomen sind oder aber es sein wollen. Sie haben die Beschaffenheit des menschlichen Körpers total außer Acht gelassen. Die Frauen bewundern die Darstellungen der weiblichen Gestalt, wie sie in Bilder- und Sculpturengallerien zu sehen sind, als Kunstleistungen, mit denen die lebenden Damen der Wirklichkeit nichts zu schaffen haben. Sie scheinen diese Venus-Leiber für mythologische Gebilde zu halten, deren Maßstab nicht an sie selbst angelegt werden kann. Die zu kleidende Gestalt ist in ihren Augen eine ganz andere, und zwar die der glockenförmigen, wespentailligen Probirmamsellen, die sie in den „Kunstateliers“ ihrer Schneiderinnen sehen und die allerdings nichts mit classischer Schönheit gemein haben. Offenbar wollen die Damen den Herren die Ehre anthun, zu glauben, daß die männliche Gestalt vollkommener sei als die weibliche und daß diese, um vollkommen zu werden, erst nach Modevorschrift gedrückt und gepreßt werden müsse! Zweifellos sind die Damen physisch von Natur etwas schwächer angelegt, aber gerade darum sollten sie sich nicht noch mehr schwächen, ihre Nerven und Muskeln nicht noch durch unpassende Kleidungsstücke schädigen.

Welches sind die Hauptnachtheile der üblichen Kleiderordnung? In welchen Beziehungen sündigen die Damenschneiderinnen und ihre freiwilligen Opfer am meisten? Der wichtigsten Nachtheile und Sünden, die wir im Auge haben, sind drei:

     1) Mangel an Freiheit der Bewegung. Hieran tragen hauptsächlich die Unterröcke und Ueber- oder Schooßröcke die Schuld; selbst bei schönem Wetter sind sie jeder lebhafteren Bewegung, jeder gesundheitlichen Leibesübung hinderlich; bei Wind, Regen und Straßenmorast sind sie aber geradezu peinlich.

     2) Gewichtigkeit der Toiletten bei ungleicher Vertheilung des Gewichts. Auch hier spielen die Unter- und Schooßröcke eine große Rolle; sie sind schwer und hängen von den Hüften herab, wodurch sie überdies die Mitte des Körpers erhitzen, während sie die unteren Theile der Beine verhältnißmäßig unbedeckt lassen, sodaß oft genug auch eine ungleiche Vertheilung der Wärme platzgreift. Aber auch der Oberkörper ist gewöhnlich zu schwer gekleidet. Abgesehen von zu schwerem und zu reichlichem Stoffe, tragen die vielen unnützen – oft noch dazu häßlichen – Verzierungen, wie Puffen, große Mengen Knöpfe und Schmelzperlen, Schleifen, Quasten u. dergl., zur Erhöhung des Gewichts bei. Oft sieht man ein zartes Mädchen, dessen schwaches Rückgrat nur mühsam den Kopf und die Schultern aufrecht erhalten kann, eine Toilette tragen, die 10 Pfund und mehr wiegt. Bei einer Fangballpartie gelang es einmal dem Major Wingfield – der dieses Spiel in England eingeführt hat – nur mit größter Mühe, eine Dame zu schlagen; er ließ nachträglich ihre und seine Gewandung wiegen und fand, daß die ihrige 10, dieseinige aber blos 41/2 Pfund wog, worauf er erklärte, sie hätte das Spiel gewinnen müssen, wäre sie nicht durch das Gewicht ihres Anzuges gehemmt gewesen. Aber weit ärger als das Gewicht selbst wirkt dessen unpraktische Vertheilung – das heißt die Concentrirung auf die Hüftengegend – auf die Gesundheit ein.

     3) Druck auf mehrere Körpertheile, namentlich die Brust, das Herz, die Lungen, die Hüften, die Füße. Dies ist der weitesttragende Vorwurf, den man der modernen Frauentracht machen kann. In die das Wachsthum der Organe schädigende Einpressungsarbeit theilen sich das Schnürleibchen, der sogenannte „Pariser“ Schuh mit seinem hohen, stark vorgeschobenen Absatz,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_508.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)