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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Unterrichtswesen zugefügt worden ist. Die Kinderhygiene könnte allerdings von dem Lehrerstande wesentlich mehr verstanden, gewürdigt und gefördert werden; es würde dies auch geschehen, wenn man, anstatt sich in eine Art Gegensatz zu den Pädagogen zu stellen und die Kinder gewissermaßen vor deren zu weit gehenden Anforderungen schützen, vor ihren der Gesundheitspflege nicht entsprechenden Einrichtungen hüten zu wollen, Hand in Hand mit ihnen ginge.

Der Hausarzt, die Familie, der Lehrer – dies Kleeblatt ist naturgemäß dazu bestimmt, eine geschlossene Einheit in Bezug auf die wichtigste Frage, das leibliche und geistige Wohl der Kinder, zu bilden. Nur schwer kann man es begreifen, wie eines dieser drei ohne die anderen, oder gar im Widerstreit mit den andern darnach streben kann, die Hygiene der Schulkinder zu verbessern. Daß hier ein einseitiges Vorgehen wenig Erfolg haben kann, liegt auf der Hand.

Man fordert in der That zu viel von der Schule, welche ja in den wenigen Stunden, in denen die Kinder daselbst verweilen, nur die gröbsten Schädigungen verhüten kann.

Man vergißt, daß das Kind während viel größerer Zeit jeden Tag dem Einflusse der Schule gänzlich entzogen und den Bedingungen seiner häuslichen Verhältnisse unterworfen ist.

Was zu dreiviertel der Zeit im Familienkreise versäumt und versehen wird, kann das einviertel der täglichen Stundenzahl im Schulhause nicht gut machen. Die Kenntniß und Verwirklichung der häuslichen Gesundheitspflege steht – das darf behauptet werden – gegenwärtig sogar der sehr hoch entwickelten Schul-Hygiene nach.

Der Arzt sieht in dem täglichen Verkehr mit der Familie wohl die Mängel und sucht sie nach Kräften zu beseitigen; allein nur zu häufig, und je mehr er in die ärmeren Volksschichten herabsteigt, desto mehr begegnet er, schon aus Gründen der Mittellosigkeit und der bedrängten socialen Lage, der einfachen Unmöglichkeit, seinen Ansichten und Rathschlägen Geltung zu verschaffen. Und wie steht es in den glücklicher situirten Familien? Hier sind zwar die Bedingungen der häuslichen Hygiene befriedigend erfüllt; aber es fehlen die Berührungspunkte, der Ideen-Austausch, das einheitliche Vorgehen zwischen Haus und Schule. Jedes geht seinen eigenen Weg, verfolgt seine eigenen Grundsätze: ob dieselben harmoniren, ob sie sich ergänzen und unterstützen oder widerstreben und ausheben, darnach wird nur von besonders sorgsamen Eltern gefragt. Ja, die wenigsten wissen etwas von dem, was der Lehrer seinen Schukindern zu ihrem Besten vorschreibt, wie der gebildete Pädagoge der Neuzeit planmäßig bemüht ist, täglich, stündlich die Arbeit mit der Erholung, die geistige Arbeit mit Anschauung, das Stillsitzen mit dem Umhertummeln, die Beschäftigung am Schreibtisch mit dem Turnen und Singen abwechseln zu lassen. Die Regierungen, die Schulbehörden stellen daraufhin die Lehrpläne zusammen; die Lehrer führen das System der zeitweisen Entspannung des Geistes, der Sinnesorgane und des ganzen Körpers durch, soweit dies in einer Schule möglich ist. Aber, daß man selbst in den sogenannten „guten“ Häusern Fühlung mit der Schule behielte und – wir müssen es leider sagen – die Schule auch mit den Familien, kommt nur selten vor. Meist hat man im Hause keine Vorstellung von den hygienischen Bestrebungen der Schule, in der Schule keine Ahnung von den berechtigten Wünschen des Hauses, und während die Sphären dieser beiden Welten, zwischen denen das Schulkind täglich hin und wieder wandert, sich nur lose berühren, bleibt das Kind hier oder dort gewissen ihm speciell ungünstigen Bedingungen unterworfen, die sich, wenn „das einende Band“ nicht fehlte, leicht beseitigen ließen.

Niemand kann von der Schule fordern, daß sie jedem Individuum, jeder häuslichen Gepflogenheit gerecht wird, oder in vollkommener Weise die Gesetze der Kinder-Hygiene erfüllt.

Sie würde ihren Aufgaben, ihren Lehrzielen und der nöthigen Disciplin kaum entsprechen können, wollte sie, die einen umfassenden Blick nicht entbehren kann, sich zu sehr in’s Einzelne verlieren. Aber die Familie kann individualisiren; sie kann und soll in möglichster Vollkommenheit, systematisch und vernunftgemäß auf die regelmäßige physische und psychische Entwicklung der Kinder hinwirken. Wenn die häusliche Gesundheitspflege mehr Würdigung und Verbreitung fände, dann würden, wie wir im Folgenden sehen werden, nicht nur Krankheiten verhütet, sondern auch rechtzeitig erkannt werden. Es würden dann die „Schulkrankheiten“ an Zahl und Bedeutung überhaupt wesentlich verlieren. So aber steht der Arzt, der willkommene Freund der Familie und der oft unwillkommene Berather der Schule, machtlos zwischen Beiden und muß, indem er zwischen Scylla und Charybdis hindurch rudert, froh sein, sein Fahrzeug glücklich gerettet zu haben, ohne an einer der Klippen zu scheitern.

Daß die meisten Kinder ärmerer Volkskreise zu Haus viel ungünstiger leben, als in der Schule, daß die Schulstunden, die sie in den heutigen luftigen, hellen, gesunden Schulgebäuden unter steter Aufsicht verbringen, für sie eine wahre Wohlthat sind, gegenüber dem, was der Kleinen daheim in den oft überfüllten, dumpfigen oder düsteren Wohnungen harrt, wo Licht, Luft und Sauberkeit, diese Lebenselemente, nur eine kümmerliche Rolle spielen - wer kann es mehr, als der Arzt, der in diese Quartiere kommt, beurtheilen?

Wo sind hier, in den oft dicht besetzten Wohn- und Schlafräumen jene fünfeinhalb Cubikmeter Raum, die man für jeden Schüler verlangt? Wie unzweckmäßig und unzureichend ist die Beleuchtung, wie verdorben die Luft, wie irrationell die Heizung! Wie häufig schreibt das Kind zu Haus an hohem, steilem Tische, auf unpassendem Stuhle, schief sitzend! Wie oft liest das Schulkind zu Haus in der Dämmerung, in fast unglaublichen Stellungen, in Büchern von miserabelstem Druck! Alles das geschieht - zu Haus; geschähe es in der Schule, welches Geschrei würde sich ob solcher Mißstände erheben! In der Familie, in den eigenen vier Wänden wird es nicht bemerkt, oder trotz seiner anhaltend nachtheiligen Wirkungen nicht beachtet.

Ganz besonders derjenige Arzt, der sich den Kinderkrankheiten widmet, deren Entstehung und Verbreitung nachspürt und – gleich dem Lehrer die Kinderwelt zu seiner Specialität erwählt hat, kann es täglich beobachten, wie die Quellen der sogenannten „Schulkrankheiten“ in vielen Fällen mit Sicherheit nicht in der Schule zu suchen sind. Möge immerhin die Schuljugend durch die von dem Wesen der Schule unzertrennliche Vereinigung vieler Kinder in geschlossenen Räumen, durch einen gewissen, für alle gleichmäßigen Zwang zu mehrstündigem Sitzen, durch verstärkte Inanspruchnahme des Gehirns und der Sinnesorgane mehr gefährdet sein; mag der Schule der Vorwurf, zu Zeiten der Boden für Fortpflanzung mancher Ansteckungen zu sein, nicht erspart bleiben – viel wichtiger wird es sein, nicht „in die Weite zu schweifen“, während „das Gute“ – in diesem Falle die Lösung der Schulkrankheitenfrage – „so nahe liegt“. Man suche die Ursache der Schulkrankheiten vor der Schulzeit und außerhalb des Schulhauses auf, und man wird finden, daß der Procentsatz der wirklichen Schulkrankheiten viel geringer wird, als man ihn bisher angenommen.

Es ist durch sehr viele Untersuchungen erwiesen, daß von den Sinnesorganen besonders das Auge des Schulkindes in immer zunehmendem Grade leidet. Nicht nur, daß die Kurzsichtigkeit mit jeder höheren Classe mehr Kinder ergreift, auch die Kurzsichtigkeit der einmal ergriffenen erreicht mit den Schuljahren höhere Grade. Seit James Ware (1812) zuerst hierauf hingewiesen, sind in Folge officieller Anordnungen, sowie durch einzelne Augenärzte von Bedeutung zu wissenschaftlichen Zwecken viele Tausende von Kindern der verschiedensten Schulen und Alter in Bezug auf ihre Augen untersucht worden. Das Resultat war überraschend und erschreckend. Von Classe zu Classe sieigt die Zahl der Kurzsichtigen; während in der Sexta nur etwa 12 von 100 kurzsichtig sind, beträgt die Zahl der Kurzsichtigen in der Prima schon 56 von 100.

Sprechen schon diese Zahlen deutlich für die Entstehung dieses Uebels während der Schulzeit, so ergiebt sich nicht minder aus dem Charakter der Schule ein Einfluß auf die Kurzsichtigkeit. In der Dorfschule ergreift sie blos 1 Procent, in den Mädchenschulen nur 10 bis 20 Procent, in den Gymnasien bis 60 Procent der Schüler. Solche Zahlen müssen zu denken geben und zunächst zu der Annahme führen, daß lediglich die Schule es ist, in welcher eine solche Calamität wurzelt. Man muß hierin bestärkt werden, wenn man sich erinnert, daß Jäger schon 1824 nachgewiesen hat, wie das neugeborene Kind kurzsichtig ist. Die starke Krümmung seiner Hornhaut flacht sich gegen das Schulalter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_519.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)