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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Kirchen (deutsch-lutherische, lettisch-lutherische, polnisch-katholische, russisch-griechische) und die Synagoge, das neue Bankhaus, die vielen zum Theil recht geschmackvollen privaten Neubauten der letzten Jahre, machte mich auf die reinlichen Märkte, die asphaltischen Trottoirs, die vielen in der Stadt trotz aller Bauwuth noch erhaltenen Gärten aufmerksam und rief endlich dem Kutscher zu: „nach den Anlagen!“

Durch eine hübsche junge Anpflanzung, die, dichtbesäet mit bald niedlich kleinen, bald anspruchsvoll decorirten Villen mit allen möglichen und unmöglichen fremdländischen Namen und allen möglichen und unmöglichen fremdartigen Stilarten, den Eindruck einer lebensfrohen Villeggiatur macht, führt uns der Rosselenker in das Nicolaibad, wo wir uns mit einem kräftigenden Seebad bei herrlichem Wellenschlag stärken. Dann schlendern wir in dem festen, weißen Ufersande durch eine fröhliche und geputzte Menge von Badegästen und Einheimischen zum stattlichen Curhause, auf dessen Terrasse wir unter den Klängen der wohlbesetzten Badecapelle, vor uns die göttliche Salzfluth, rechts „der Schiffe mastenreicher Wald“, links das bunte Badeleben, Platz nehmen. Ein schwarz befrackter Tschelowjäk (Kellner) bringt uns eine Flasche edeln Rheinweins, mein redseliger Cicerone lehnt sich behaglich zurück, räuspert sich und beginnt:

„Libau, lettisch Lepaja, die Lindenstadt, auf der schmalen, fast zwei Meilen langen Nehrung zwischen der ‚offenbaren‘ See und dem kleinen See, erhielt seine Stadtrechte 1625 durch Herzog Friedrich, seinen jetzigen Hafen 1697 durch Herzog Friedrich Casimir auf die Bitten der ‚Ehrsamen und Weisen, auch Ehrbaren, Unseren lieben Getreuen, Bürgermeister, Voigt, Rath, Eltermann, Eltesten und gantzen Kaufmannszunft‘. Das Curhaus, vor dem wir sitzen, mit den Anlagen ist wie so Vieles in unserer guten Stadt das Werk des für ihr Wohl unermüdlich thätigen Altermann’s der großen Gilde Ulich, der vor wenigen Jahren in hohem Greisenalter ge– Aber Du hörst ja gar nicht,“ unterbrach er etwas gekränkt seinen Führersermon. Statt aller Entschuldigung wies ich schweigend auf das bunte Treiben um uns her: hier eine Schaar lustwandelnder, dunkeläugiger, lebhaft conversirender Polinnen mit ihren eleganten Cavaliers, dort am Tische eine Gruppe blonder, hochgewachsener kurischer Edelleute mit ihren nicht minder blonden und hochgewachsenen Damen; unten am Strande promenirende Flottschiks (Flottenofficiere), schleppfüßig einherwandelde, tabakkauende holländische und englische Schiffscapitaine, dazwischen muntere Kinder mit ihren französischen und englischen Bonnen, hier lustige Gymnasiasten, dort hinter einer ungezählten Batterie von Bierflaschen dörptsche „Bursche“ mit ihren bunten Farbendeckeln – und das summte zwischen dem Rauschen des Meeres und den Tönen der Musik so vielsprachig, so lebensfroh durch einander: hier ein akademischer Witz mit viel Behagen in der vollkräftigen, barschen kurischen Mundart vorgetragen und von homerischem Gelächter begleitet, dort polnisches Liebesgeflüster, hier französische und englische Mahnworte an die lieben Kleinen, dort ein kräftiger russischer Fluch, im Hintergrunde lettischer Wortwechsel oder unverständlich jüdisch-polnisch-litauisch-deutscher Jargon der Kutscher – kurz, es war ein so babylonischer Wirrwarr von Sprachen und Nationalitäten, dabei ein so buntes Bild allseitigen Wohlbehagens und frohen Lebensgenusses, daß mein Freund seinen historischen Notizenkram schleunigst einsteckte und mir verständnißinnig zunickte: „Ja, ja, unser Libau ist ein fideler Ort.“

Die Wahrheit dieser psychologisch feinen Bemerkung bestätigte sich denn auch im weiteren Verlaufe des Abends vollkommen, und als wir nach längerem Verweilen durch die ambrosische Sommernacht, deren klare, reizvolle Schönheit nur der Nordländer kennt, in die Stadt zurückkehrten, scholl uns noch von überall her Musik und frisches Leben entgegen. Unter den Klängen einer heiteren Musik aus dem Hôtelgarten gaukelte mich denn auch Morpheus in die lieblichsten Träume.

Am anderen Morgen fuhr ich nach Mitau. Die Eisenbahnlinie führt durch fruchtbare, wohlgepflegte Ländereien mit oft unabsehbar großen wogenden Getreidefeldern, schönen Waldungen, die sich leider immer mehr lichten, vorbei an stattlichen Edelhöfen und strohgedeckten wohnlichen Gesinden (Bauernhäusern). Letztere sind auch in ihrem Aeußeren bedeutend von den oft noch armseligen Behausungen der Bauern in Esthland und esthnisch Livland verschieden.

Hier in Kurland finden wir überall Schornsteine auf den meist noch strohgedeckten Dächern, die Fenster sind größer und zahlreicher, manche Gesinde sind mit einem Garten umgeben – kurz, das Ganze macht einen behaglichen, behäbigen Eindruck. Bietet die Gegend auch gerade keine landschaftlichen Reize, so ist doch ein Abstecher von Preckuln, der zweiten Station hinter Libau, in die sogenannte „kurische Schweiz“, das heißt die Gegend von Amboten, nicht ohne Genuß, namentlich wenn man den Zweck hat, sich Land und Leute etwas genauer anzusehen, als dies auf einer Eisenbahnfahrt möglich ist.

Eine Fußpartie in diese Gegend ist namentlich für den Sonntag zu empfehlen, wo von allen Seiten festlich geputzt, zum Theil noch in schmucker Volkstracht, zu Roß, zu Wagen und zu Fuß das lettische Landvolk zur Kirche zusammenströmt, und angenehm überrascht schweift das Auge des Wanderers, der aus dem Wald auf der Höhe zur Lichtung tritt, über das sanft gewellte Terrain mit seinen weiten Getreidefeldern, saftigen Wiesen und herrlichen Wäldern; vor uns liegen das alte Ordensschloß Amboten auf stolzer Höhe, unweit davon, ebenfalls auf einem Hügel, weit in’s Land schimmernd die Kirche und rings vereinzelt, aber in einer für kurische Verhältnisse geringen Entfernung eine Menge wohlgepflegter, stattlicher Edelhöfe.

Eine kurze Strecke führt uns die Eisenbahn durch litauisches Gebiet (Gouvernement Kowno), das sich sofort durch die hohen Kreuze und Heiligenbilder an den Straßen und Dörfern als ein katholisches Land von dem streng lutherischen Kurland abhebt; bei Moscheiki biegen wir nach Nordosten und befinden uns bald wieder im echten, rechten, unverfälschten „Gottesländchen“, wie die Kurländer ihre Heimath so gern nennen. Die frühere Residenz desselben, Mitau, ist zunächst das Ziel unserer Reise.

Sofort fällt uns der Unterschied zwischen dem kürzlich verlassenen Libau und dem eben betretenen Mitau auf. Jenes eine moderne, aufstrebende und aufsteigende Handelsstadt mit frisch pulsirendem Leben – dieses eine an alten Erinnerungen aus herzoglichen Zeiten reiche, ruhige Beamten- und Literatenstadt, die mit Ausnahme der namentlich in früheren Jahren sehr bewegten Marktzeit um Johanni und der vom Landadel rauschend gefeierten Wintersaison wenig Leben bietet, und theils von der mächtig emporgeblühten benachbarten Metropole Riga erdrückt, theils von der jüngeren Schwesterstadt Libau an Bedeutung bei weitem überflügelt worden ist.

Früher war Mitau der Mittelpunkt des kurischen Lebens, und die glänzende Hofhaltung der kurischen Herzöge verlieh ihr namentlich in den Augen des Adels besonderen Reiz. Zwei Zeugen der herzoglichen Zeit, die mit der Einverleibung Kurlands in’s russische Reich (1795) ihren Abschluß bekam, wollen wir hier kurz erwähnen: das Gymnasium in der „Palaisstraße“ und das Schloß. Jenes, 1795 von dem letzten kurischen Herzoge Peter nach einem Entwurf des bekannten Philosophen Sulzer als Akademie gegründet, ist neben den Gymnasien in Libau und Goldingen die Hauptbildungsstätte des Landes, die nicht nur der kurischen Landesjugend, sondern auch zahlreichem Zufluß aus Polen und Lithauen die klassische Bildung vermittelt.

Das für eine so kleine Residenz und ein so kleines Land (Mitau zählt etwa 25,000 Einwohner, Kurland bei circa 500 Quadratmeilen gegen 700,000 Einwohner, enthält also an Flächeninhalt soviel wie Württemberg [355] und Hessen [140] zusammen, ohne die Bevölkerungsziffer dieses letzteren Landes [940,000] zu erreichen) großartig zu nennende Schloß, von dem schon Hippel in seinen „Lebensläufen“ sagt, daß es „so wenig Verhältniß zu dem übrigen Theil der Stadt habe, als das Mitausche Pflaster zur Regelmäßigkeit und Ordnung“, liegt, von hübschen Anlagen umgehen, etwas außerhalb der Stadt, am Ufer der Aa. Es wurde 1738 unter dem auch außerhalb der specifisch kurischen Geschichte bekannten Herzog Ernst Johann Biron durch Graf Rastulli, den Erbauer des Winterpalais in Petersburg, begonnen und unter großem Kostenaufwand nach vielen Stockungen in edlem Stil und kolossalen Dimensionen 1772 vollendet.

Das imposante Gebäude, ein stummer und doch beredter Zeuge früheren Glanzes, das, beiläufig bemerkt, auch Ludwig dem Achtzehnten zweimal zu mehrjährigem Aufenthalt (1798 bis 1800 und 1805 bis 1807) gedient hat, ist jetzt der Sitz verschiedener Behörden, und nur die Gruft mit den wohlerhaltenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_526.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)