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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

einzelne Schechs, die nach selbstgeschriebenen und aus allerlei anderen Korancommentaren zusammengetragenen Compendien private medizinische Vorlesungen halten. Solche Compendien sind oft sehr drolliger Art und behandeln fast immer nur die Körperpflege in ihren primitivsten Anfängen. Das Schneiden der Nägel, das Rasiren des Kopfhaares, das Gelb- und Rothfärben der Nägel an Händen und Füßen und der inneren Handflächen mit Henneh, für Frauen außerdem noch das Schwarzfärben der Augenbrauen und Lider mit Khol (Antimon), das Blaupunktiren der Arme, der Handgelenke und Fußknöchel, alsdann der Einfluß der Sonne und vorzüglich des Mondes auf die Anwendung kleiner Hausmittel – solche Recepte und viele ähnliche Bagatellen spielen darin eine große Rolle. Man würde aber sehr irren, wenn man diese Art von „Wissenschaft“ mit der eigentlichen arabischen Heilkunde in Verbindung bringen wollte. Jene Dinge gehören auch dort in die Barbierstuben, und insofern ist das obige Citat ganz am Platze. Der wirkliche Hakihm ist ein völlig anderer Mann und bedient sich fast nur sympathetischer Mittel. Der Schwerpunkt seines Wissens, das A und O seiner Diagnose ist das „Kismet“, das unabänderliche Fatum, denn er ist, wie jeder gute Mohammedaner, ein Fatalist.

Nach dem Islam sind nämlich alle Ereignisse, die den einzelnen Menschen von seiner Geburt an bis zu seinem Tode treffen, ja sein gesantmtes Denken, Wollen und Empfinden von Allah nicht allein vorher gewußt, sondern auch vorher bestimmt; das Leben des Menschen ist mithin dieser Vorherbestimmung unterworfen und, er mag wollen oder nicht, er kann sich derselben nicht entziehen. Das ist der Fatalismus. Und darin (um dies gleich hier zu bemerken) liegt auch , und wohl mehr als in manchen anderen Punkten, der scharfe Unterschied zwischen der mohammedanischen und christlichen Religion, denn diese läßt dem Menschen völlig und ganz den freien Willen zu eigener Selbstbestimmung, wenn auch Gott die Willensrichtung und überhaupt die Zukunft des Menschen, kraft seiner Allwissenheit, vorher weiß.

Mit dem Fatalismus hängt nun logisch die stille und resignirte Ergebung in das unvermeidliche Schicksal, das „Kismet“, zusammen. Trifft den Mohammedaner ein Unglück, so ist dies nicht allein der Wille Allah’s, sondern der Getroffene kann nichts thun, als es ruhig über sich ergehen lassen. „Insch Allah“, wie Gott will, ist der allgemeine Ausruf eines jeden Mohammedaners, mit welchem er sich dem Kismet unterwirft. Das schöne christliche Wort: „hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen“, kennt er nicht und hat dafür kein Verständniß.

Am deutlichsten, aber auch zugleich am betrübendsten, zeigt sich dies bei Krankheiten und vollends bei Epidemien, die der Bekenner des Islam nach einer, man möchte geradezu sagen, albernen Auslegung des Korans für eine directe Strafe und Züchtigung Allah’s ansieht. Und leider theilen auch die höheren, „gebildeten“ Classen diesen Wahn und handeln darnach, das heißt sie handeln so gut wie gar nicht. Daher die für uns Europäer unbegreifliche Lässigkeit, Gleichgültigkeit und Unthätigkeit in allen Schichten der Bevölkerung und die in den untern Classen an Stumpfsinn grenzende Ergebung in das Unvermeidliche bei irgend einem individuellen Unglück oder bei einer allgemeinen Calamität. „Steht im Himmelsbuche mein Tod geschrieben, so muß ich sterben, ich mag dagegen thun was ich will; wenn nicht, so wird mir auch ohne mein Zuthun geholfen. Was kann der Mensch gegen das Kismet?“

Wie oft haben wir selbst diese Worte gehört, sowohl bei einzelnen Unglücksfällen, als auch bei grassirenden Krankheiten, z. B. im Jahre 1875, wo die Blattern unter den Kindern in Kairo große Verwüstungen anrichteten.

„Was hat mir Dein deutscher Hakihm genützt,“ sagte mir mein Nachbar, ein bemittelter arabischer Kaufmann, der zwei kleine Töchter an einem Tage verlor und dem ich einen befreundeten deutschen Arzt gewissermaßen aufgenöthigt hatte, „meine Kinder mußten ja doch sterben, das wollte das Kismet; hätte ich nur den Mahmud-Abdallah gerufen, den großen Hakhihm der Achmedmoschee, der hätte vielleicht die Dschinnen noch zeitig beschworen.“

Diesen Mahmud–Abdallah sollte ich bald persönlich kennen lernen; zuvor nur noch eine Bemerkung, die das Obige näher erklärt. Man ist nämlich versucht, sich zu verwundern, daß der Mohammedaner, trotz seines Fatalismus, überhaupt noch einen Arzt zu Rathe zieht, „wenn es eben doch nichts hilft“; aber einestheils wird der Hakihm fast immer nur von den Angehörigen und selten von dem Kranken selbst verlangt, und anderntheils ist der Selbsterhaltungstrieb, auch bei dem strengsten Fatalisten, doch nicht so ganz zu unterdrücken, daß er nicht in den Stunden heftiger körperlicher Schmerzen und sonstiger großer Noth nach Linderung und Beistand rufen sollte. Der Glaube an die Dschinnen, die bösen Geister, kommt hinzu, die sich des Kranken bemächtigen wollen; sie sitzen gewöhnlich auf dem platten Dache des betreffenden Hauses, oder, wenn sie sehr böse sind, vor der Schwelle, und mancher gelehrte Schech oder Heilige und mancher große Hakihm hat sie mit eigenen Augen gesehen. Sie sind zu bannen und unschädlich zu machen, man muß es nur verstehen, was freilich nur Wenige können, und wenn es trotzdem nicht glückt, so hat der Beschwörer es eben nicht verstanden, oder mit anderen Worten: er war nicht „heilig“ genug. Der oben erwähnte Hakihm Mahmud-Abdallah hatte damals in Kairo einen großen Ruf als Banner und Beschwörer, und wir selbst, durch Oertlichkeit und sonstige Zufälligkeiten begünstigt, haben ihn einst operiren sehen. Im Nachbarhause war ein arabischer Beamter schwer an der Ruhr erkrankt, und die gewöhnlichen Mittel: Amulette, Besprechungen und Gebete waren erfolglos geblieben. Die Frauen schickten also zu Mahmud-Abdallah. Vorher hatte man den Hausflur möglichst gesäubert und mit Rosenwasser besprengt.

Der Hakihm ritt auf einem schönen syrischen Esel, den ein kleiner Neger am Zügel führte. Es war ein stattlicher, weißbärtiger, mithin schon bejahrter Mann in seinem türkischem Costüm, und der grüne Turban mit dem Goldstreifen bezeichnete einen Nachkommen des Propheten. Er wurde von dem Bruder des Kranken empfangen, den er sofort lebhaft anredete, indem er mit der Hand auf den Rundbogen des Eingangsthores wies. Dort hingen allerdings nach der Landessitte einige kleine Oellampen, die auch wegen des wichtigen Besuches angezündet waren, aber die Aloepflanze in der Mitte fehlte, die Beschützerin vor Krankheit und vor dem „bösen Blick“, und das war es, wie wir nachher erfuhren, was der Hakihm so mißfällig bemerkt hatte. Kein Wunder, wenn in ein so schlecht behütetes Haus Krankheit und Unglück eingezogen waren.

An das Bett des Kranken geführt, zog der Hakihm zuerst aus einer Ledertasche eine Handvoll Salz, das er rings umherstreute, um die Dschinnen zu bannen, dann nahm er ein Klümpchen Mekka-Erde und legte es auf die Brust des Kranken und ein anderes kleines Paket unter das Kopfkissen. Dies Paket enthielt verschiedene auf Pergamentstreifen geschriebene Citate aus dem Koran und, was die Hauptsache ausmachte, es war von einem rothen Seidenstoff umwickelt, das der Hakihm selbst von der Decke, welche die Kaaba in Mekka verhüllt, mitgebracht hatte.[1] Dann zog er eine flache silberne Schale aus dem Kaftan und ein Fläschchen mit sympathetischer Tinte, in welche er eine Rohrfeder eintauchte und nun die innere Fläche der Schale mit allerlei Figuren und Zeichen bemalte. Aus einem anderen Fläschchen, das mit Semsemwasser, dem heiligen Brunnen von Mekka, gefüllt war, goß er dann einen guten Löffel voll in die Schale, schwenke sie hin und her, um die Tinte aufzulösen, und hielt sie vor den Mund des Kranken, der das Wasser begierig ausschlürfte. Das war augenscheinlich der wichtigste Theil dieser, gelinde gesagt, eigenthümlichen ärztlichen Behandlung; das Weitere beschränke sich auf das Hersagen mehrerer Koranstellen und auf die Empfehlung an die männlichen Familienmitglieder (die weiblichen waren gar nicht zugegen), den arabischen Rosenkranz zu beten.[2]

(Schluß folgt.)




  1. Diese Decke, von schwerem goldgesticktem Brokat und in der Regel ein Geschenk des Vicekönigs von Aegypten, wird alljährlich erneuert und die alte wird dann in große und kleine Stucke zerschnitten und an die vornehmsten Pilger vertheilt. Man schreibt ihr sehr heilkräftige und auch sonst viel wunderthätige Eigenschaften zu.
  2. Ein solcher Rosenkranz besteht aus einer Schnur von 99 Kugeln, welche die 99 Eigenschaften Allahs, Andere behaupten des Propheten, bedeuten und die, natürlich nur von Männern, die im Kreise mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzen, in singendem Tone und unter stetem Hin. und Herschwanken des Oberkörpers abgebetet werden. Es giebt auch kleinere Rosenkränze von 33 und sogar solche von nur 11 Kugeln, wo dann jede Kugel 3 oder 9 Eigenschaften bedeutet. Ein frommer Muslim, gleichviel welchem Stande er angehört, hat stets, wenn er öffentlich erscheint, einen solchen Rosenkranz in der Hand.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_536.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2024)