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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Ein Säuglings-Kuhstall.

Von Dr. Chalybäus.

Die medicinische Wissenschaft hängt nicht mehr dem alchymistischen Probleme nach, künstlich Menschlein zu machen, aber sie ist jetzt vor die Aufgabe gestellt, neugeborene Menschlein künstlich zu großen Menschen aufzuziehen. Sicher über die Hälfte aller Mütter, wenigstens in der großen Stadt, mag oder vermag jetzt nicht, ihre Kinder an der Brust selbst zu ernähren. Man ertheilt solchen Frauen den Rath, dem Kinde eine Amme zu geben. Der Rath ist für das Kind der Mutter ebenso gut, wie für das Ammenkind schlecht; was auf der einen Seite gewonnen wird, das wird auf der anderen entzogen, das eine Kind gedeiht nur auf Kosten des anderen. Zudem ist der Rath auch leichter gegeben, als befolgt, und zur Erlangung einer wirklich guten Amme aus den städtischen Vermittelungsbureaus gehören besondere Glücksumstände. Es ist hiernach eine ganz besonders richtige, aber auch besonders schwierige Aufgabe der Gesundheitspflege, für gute Ersatzmittel der Muttermilch zu sorgen.

Die neuere Zeit hat, diesem Bedürfnisse nachgehend, Frauenmilch-Surrogate in großer Anzahl auf den Markt gebracht, in Form von Kindermehlen, Kinderzwieback, Kraftgries und andern Kindernahrungsmitteln. Es ist nicht zu leugnen, daß die rationelle Zusammensetzung dieser Präparate sowie ihre Verdaulichkeit und Haltbarkeit bedeutsame Fortschritte gemacht und daß ihre Mittel deshalb auch vielfach nützlich gewirkt haben. Keines dieser Surrogate indeß vermag sich in seiner allgemeinen Verwendbarkeit als künstliche Nahrung für Säuglinge mit einer guten Thiermilch, speciell der Kuhmilch, welche für den allgemeinen Gebrauch allein in Betracht kommt, zu messen.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die große Sterblichkeit der kleinen Kinder wesentlich von der mangelhaften Versorgung mit guter Milch abhängt. In den großen Städten ist die stete Beschaffung frischer, unzweifelhaft und gleichmäßig guter Kuhmilch mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden. Da die Milch nicht in der Stadt selbst, sondern auf den Landwirthschaften in mehr oder weniger großer Entfernung vom Stadtweichbilde erzeugt wird, so sind der Kuhstall, das Vieh und das Gebahren des Milchproduzenten der Ueberwachung des Consumenten ganz entzogen. Die Milch ist ein sehr empfindlicher Stoff, der sorgsam behandelt sein will, sie ist leicht dem Verderben ausgesetzt und verliert schon durch das Aufbewahren an ihrer Güte. Noch mehr leidet sie bei längerem Transport, wenn sie wiederholtem Rütteln und starker Sonnenhitze ausgesetzt wird, ganz abgesehen noch von den Gefahren der Verunreinigung durch unreine Gefäße und das Gebahren mit unsauberen Händen. Hierzu kommt weiter noch, daß gerade die Milch der Verfälschung und Gehaltsverringerung durch den Zwischenhändler ganz außerordentlich ausgesetzt ist.

Ist schon die Beschaffung der gewöhnlichen unverfälschten Kuhmilch für die große Stadt mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, so ist es noch viel schwieriger, die Stadt mit solcher Kuhmilch sicher zu versorgen, welche zum Ersatz der Frauenmilch tauglich und zur Ernährung kleiner Kinder im ersten Lebensjahre dienlich ist; denn zu diesem Zwecke ist keineswegs jede gute Kuhmilch ohne Weiteres verwendbar. Nicht jede Muttermilch bekommt dem zarten Säugling; die Kuhmilch ist aber der Frauenmilch nicht ganz gleich zusammengesetzt und stellt deshalb schon an sich größere Anforderungen an die Verdauungskraft des kindlichen Magens. Sodann ist die Zusammensetzung der Kuhmilch keine ganz gleichbleibende, sie wechselt sowohl bei verschiedenen Kühen je nach der Rasse, als auch bei derselben Kuh je nach dem Alter, dem Gesundheitszustande, der Milchperiode und der Fütterung der Kuh, und zwar sind die Unterschiede, welche die Milch je nach diesen wechselnden Verhältnissen zeigt, ganz bedeutende; es giebt Milchsorten, welche nicht verfälscht sind und dennoch keine normale ungeschwächte Milch mehr vorstellen.

Um eine gute, gehaltvolle und sich gleichbleibende Milch zu erzielen, ist es vor Allem nothwendig, daß in der Milchwirthschaft die genaueste Sorgfalt auf die Erhaltung des Gesundheitszustandes der Milchkühe verwendet wird. Zur Beurtheilung desselben sind aber die wenigsten Landwirthe, namentlich kleineren Landwirthe befähigt, und nicht wenige sind sogar geneigt, auch noch die Milch von kranken Kühen zu verkaufen; ist es doch vorgekommen, daß Milch von Kühen vom Dorfe nach der Stadt verhandelt worden ist, welche vom Thierarzt scharfe und giftige Arzneimittel erhalten hatten. Kühe, die zum Ziehen verwendet werden, geben eine geringe Milch.

Von großem Einfluß auf das Wohlbefinden des Milchviehs und damit auf die Güte der Milch sind die baulichen Verhältnisse des Stalles, das Melken selbst, sowie die Sauberkeit des ganzen landwirthschaftlichen Betriebes.

Die bedeutendsten Verschiedenheiten in der Zusammensetzung der Milch werden aber durch die Verschiedenartigkeit der Fütterung der Kühe bedingt. Es kommt nur selten vor, daß die Kühe auf der Wiese schädliche Kräuter fressen; in Rom aber sind Kinder durch Milch erkrankt, welche aus Herbstzeitlosen und Schierling stammende Gifte enthielt. Gnadenkraut macht die Milch abführend, Anis verleiht ihr feinen Geruch, Wermut feinen Geschmack, Safran und Hundszunge ihre Farbstoffe. Von Einfluß auf die Mengeverhältnisse der Milchbestandtheile ist die Nahrhaftigkeit des Futters, je nachdem die Wiesen gedüngt werden oder nicht. Im Sommer und Herbst genießen die Kühe meist grünes Futter auf dem Weidegang, oder durch Vorlage von Klee, Gras, Gemengfutter, Wicken, Runkelrüben und Aehnlichem im Stalle. Diese wasserreiche Fütterung vergrößert die Milchmenge, und aus diesem Grunde werden vom Viehbesitzer auch im Winter zur Stallfütterung oft nicht trockenes Heu und Klee verwendet, sondern allerhand Wurzelfrüchte, Kartoffeln, Bierträber, Branntweinschlempe, verschiedene billige Wirthschaftsabfälle etc.

Die Milch wird bei diesem Futter, das, nebenbei bemerkt, den Kühen selbst oft nicht zusagt, wässeriger und zur Säuerung neigend; es scheinen sich neben den gewöhnlichen chlor- und phosphorsauren Salzen auch schwefelsaure zu bilden, und deshalb wirkt diese Milch darmreizend und Durchfall erzeugend. Wir beobachten den gleichen Einfluß der Nahrungsweise ja auch bei den stillenden Frauen, und deshalb wird diesen stets die Einhaltung einer bestimmt vorgeschriebenen Diät anbefohlen, um die Säuglinge vor Verdauungsstörungen zu bewahren. So streicht z. B. von Ammon in seinem vielgelesenen Buche über „Die ersten Mutterpflichten“ alle grünen Gemüse, Kohl, Kraut, Rüben vom Speisezettel der Mutter, weil deren Milch dann blähend und abführend wirkt. Auch die Kühe, welche als Ammen dienen sollen, müssen auf eine besonders geregelte Nahrungsdiät gesetzt werden, um den besonderen Anforderungen dieses Dienstes zu genügen. Die grüne, wasserreiche Fütterung der Kühe liefert eine Milch, welche für gesunde Erwachsene zwar ganz brauchbar, für Säuglinge aber eine ungeeignete und gefährliche Nahrung ist. Solche Milch erzeugt bei den Kindern Magen- und Darmerkrankungen mit lebensgefährlichen Durchfällen oder mit langwierigen Verdauungsstörungen, welche Krämpfe, Abzehrung, Rhachitis und Scrophulose im Gefolge haben. Daher erklärt sich auch der Umstand, daß die kleinen Kinder hauptsächlich im Sommer, während der Grünfutterzeit, von Darmkrankheiten befallen werden, und zwar vorzugsweise diejenigen, welche nicht an der Mutterbrust liegen, sondern Kuhmilch erhalten.

Eine weitere Vorsicht bei der Milchwirthschaft ist dadurch geboten, daß eine Uebertragung gewisser Krankheiten vom Thiere auf den Menschen stattfinden kann. Als verdächtig und gefährlich ist besonders die Milch von Thieren zu bezeichnen, welche mit Perlsucht oder Tuberkulose, mit Maul- und Klauenseuche, mit Euterverschwärung behaftet sind. Der Genuß der rohen Milch vom seuchekranken Kühen kann eine fieberhafte Krankheit zur Folge haben, welche mit einem Bläschenausschlage auf den Lippen und der Zunge verbunden ist. Der Unterleibstyphus ist wiederholt in London durch Milch verbreitet worden, welche in Gefäßen, die mit inficirtem Brunnenwasser gespült worden waren, verschickt wurde, sowie durch solche, welche von Melkern besorgt wurde, in deren Familie die Krankheit herrschte. Auch bei einer Diphtheritisepidemie in London ließ sich die Verbreitung derselben in Verbindung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_603.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2023)