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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

das Reußthal herauf. Wenn sie im Urserenthal anlangen, bietet sich ihnen eine Aussicht auf drei Pässe dar, auf die Furka, die nach Wallis, auf den Oberalppaß, der nach Graubünden, und auf den Gotthard, der nach Italien führt. Der letztere ist der höchste und auch der am weitesten vorgestreckte von diesen Pässen. Nichtsdestoweniger lassen sich die Vögel nicht irre machen. Sie schwenken, ohne die beiden übrigen Pässe zu beachten, gleich zum St. Gotthard ein, als wenn sie wüßten, daß dieser auf dem kürzesten Wege sie ihrem Ziele entgegenführe. Nach kurzer Rast auf den kleinen Gotthardseen eilen sie, Thäler und Gebirgseinschnitte als Anhaltspunkte verwerthend, hinab zur Po-Ebene.

Was die übrigen Zugwege durch das Innere von Mitteleuropa anbetrifft, so scheinen nicht wenige Arten mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Weser und die Elbe hinauf zu ziehen. Ebenso gehen sie auch die Oder hinauf nach Schlesien, wohin die Elbe theilweise Beiträge liefert. Soweit Thatsachen vorliegen, scheinen die in dieser Weise angekommenen Vögel später durch die baierische Niederung zu dem Flußthale der Donau und längs desselben weiter nach dem südöstlichen Europa zu ziehen.

Nach dem Beigebrachten und einem nochmaligen Blick auf unsere Zugkarte wird dem Leser klar werden, daß man im Irrthum befangen war, wenn man Aegypten als die Winterherberge unserer mitteleuropäischen Zugvögel ansah, wie man bisher allgemein zu thun pflegte. (Vergl. „Lenz, Die Vögel“, Seite 14.) Die Wintergäste Aegyptens und der Nilländer stammen wohl sämmtlich aus dem Osten und ziehen längs der Zugstraße, welche die Levante mit dem Schwarzen Meer und dem Gebiete des Ob in Verbindung setzt.

Zugstrassen der Vögel.

Daß eine Ausdehnung der Wanderungen einzelner unserer Zugvögel von der nördlichen Erdhälfte über den Aequator hinaus bis zur südlichen Hemisphäre stattfinde, wird einstweilen wohl mit Recht in Zweifel gestellt.

Früher glaubte man den Zug durch die Richtung der Meridiane bedingt. Der obengenannte russische Naturforscher von Middendorff stellte fernerhin die Hypothese auf, welche das erstaunliche Orientirungsvermögen der Zugvögel dadurch erklärte, daß sie immerwährend der Richtung des Magnetpoles sich bewußt wären und dem zufolge auch ihre Zugrichtung genau innezuhalten wüßten.

„Was dem Schiffe die Magnetnadel ist, wäre dann diesen Seglern der Lüfte das innere magnetische Gefühl, welches vielleicht in engstem Zusammenhange mit den galvanisch-magnetischen Strömungen stehen mag, die im Inneren des Körpers dieser Thiere erwiesenermaßen kreisen – der Vogel ist durch und durch Magnet.“

Eine merkwürdige, für unsere groben Sinne nicht recht faßbare Erscheinung ist allerdings das genaue Einhalten dieser Luftwege von den Vögeln. Allein ich glaube nicht, daß wir die Erklärung so weit herzuholen haben, wie es durch von Middendorff geschehen, und bin überzeugt, daß die Ansicht der Gebrüder Müller, wonach der ziehende Vogel sich im großen Ganzen an die herrschenden Luftströmungen hält zur Zeit seiner Weltreise, weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat.

„Diese Luftströmungen – sie sind das ihn erweckende und leitende Agens, dem er in seiner ausgeprägten Eigenschaft als Luftthier regelmäßig folgt und dessen Walten er sich übergiebt.“

Im Gegensatz ferner zu der herrschenden Meinung, daß der ziehende Vogel in der Regel oder stets der Windrichtung entgegen steuere, stellen die Gebrüder Müller die durch eine Reihe von Thatsachen gestützte Ansicht auf, daß auch die geringste (nur keine allzu heftige, orkanartige) Windströmung in seiner Zugrichtung dem Wandervogel förderlich sei.

Ich glaube ferner, daß im Allgemeinen das Moment der Erziehung beim Zugphänomen immer noch nicht genügend betont wird. Wenn wir die Thatsachen würdigen, daß innerhalb einer und derselben Art die älteren Individuen die Führung der Jüngeren, der ganzen luftigen Karawane übernehmen, daß zu den verirrten, verschlagenen Zugvögeln die jungen Exemplare das Hauptcontingent liefern, daß besonders klugen und vorsichtigen Vogelarten minder kluge und wehrhafte sich anvertrauen, so werden wir zu der Ueberzeugung gelangen, daß die Erfahrung eine überaus wichtige Rolle zu spielen berufen ist beim Zuge der Vögel. Die Summe der Erfahrungen wird um so größer sein, je länger die Lebensdauer des Individuums währt, beziehungsweise je öfter ein Vogel den Zug in die Fremde und die Heimkehr zu unternehmen Gelegenheit hat.

Wir müssen zwar dem Vogel ein ungemein feines Ortsgedächtniß, hoch entwickelte Sinneswerkzeuge, vor Allem ein außerordentlich scharfes, ein gleichsam fernrohrbewaffnetes Gesicht zusprechen, wir müssen das Zugphänomen entschieden als eine „Großthat“ bezeichnen, aber wir brauchen bei Erklärung keineswegs zu übernatürlichen Kräften unsere Zuflucht zu nehmen. Der Zug wird auch vieles von seinem geheimnißvollen Nimbus verlieren, wenn wir ihn betrachten als eine Gewohnheit, die, ursprünglich hervorgerufen durch Aenderung der Klimate auf unserer Erdoberfläche, späterhin im Laufe unermeßlicher Zeiträume sich fixirt hat in der Natur des Vogels – ein treffliches Beispiel von der Macht der Vererbung.

Dr. Emil A. Göldi.

Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung). S. 593. – Wien vor zweihundert Jahren. Ein Ruhmeskranz der alten Kaiserstadt (Schluß). S. 596. Mit drei Portraits von A. Greil. S. 597. – Der Uklei-See. S. 601. – Mit Illustration von G. Sundblad. S. 601. – Ein Säuglings-Kuhstall. Von Dr. Chalybäus. S. 603. Mit Illustration von J. von Hartigsch. S. 605. – Der Zug und die Zugstraßen der Vögel. Von Dr. Emil A. Göldi. S. 606. Mit einer Karte nach Dr. J. Palmén. S. 608.


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_608.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)