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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

kann, als eben durch die beigeschriebenen Worte des Zeichners selbst. Das alles ist nur ein Beweis von Richter’s Originalität. Der Meister selbst aber scheint Aehnliches gefühlt zu haben, denn immer entschlossener wandte er sich dem Leben selbst zu – bald griff er ohne Vermittelung eines Poeten mitten hinein, und wo er’s faßte, ward’s interessant. Auch von den mittelalterlichen Bräuchen und Trachten, denen er zunächst wohl unter dem Einfluß der romantischen Zeitströmung mit Vorliebe gehuldigt harte, wandte er sich immer mehr ab und dem warmen Leben der Gegenwart zu.

Nun wär’s freilich ein Ding der Unmöglichkeit, das gewaltige Stoffgebiet, das uns Richter in Tausenden von kleinen Offenbarungen erschloß, mit einem Wort für all seine Einzelschönheiten durchwandern zu wollen. Aber da und dort müssen wir unserem Zauberer doch über die Schulter sehen, wie er, was das Volk und er mit dem Volk fühlt, denkt und erlebt, vor sich auf die Blätter bannt.

Das ganze Menschenleben ist’s.

Wir sehen das Kind, wie es kaum die Welt begrüßte, wir folgen ihm auf seinem ersten Weg, wenn es bei Orgelton und Glockenklang von Eltern und Freunden zur Taufe geleitet wird. Wir sehen der Eltern „rechte Augenweide“, wie sich die Beiden vor dem Schlafengehen noch einmal so recht satt daran sehen:

„Der Alles segnet, segn’ Euch Beide,
Ihr liebes Schlafgesindel, Euch!“

Und wir belauschen des jungen Weltbürgers erste Schritte, seine ersten täppischen Spielereien – sieh, da kommt der Storch wieder: ich glaub’, er kennt dich nicht mehr –

„’s macht’s, wil d’ so groß und sufer bisch,
Und ’s Löckli chrüser worden isch:
Fern hesch vo so ne Jüppli g’ha,
Jetz hesch scho g’streifti Hösli a!“

Wie der Junge wächst! Jetzt kann er schon mit den Anderen mittanzen, jetzt läuft er gar mit ihnen in den Wald und braucht sich nicht mehr vom Schwesterlein füttern zu lassen – „beiß ’mal ab, Hänschen“ – oh, der sammelt schon selber Beeren – „eins in’s Töpfchen, zwei in’s Kröpfchen“. Und nun klettert er gar schon mit fernen kleinen Sündergenossen auf den Baum und maust Kirschen – gieb dir nicht so viel Mühe, du guter Holzsoldat da oben, der du so grimmig an deiner Klapper drehst: die Spatzen jagst du nicht weg! Und nun ist er schon so gescheidt geworden, daß er gern Großmamas „gruslichen Geschichten“ lauscht – prr, da spukt ein Geist – ach nein, der Apfel auf dem Ofen war’s, der ist geplatzt! Wenn er nur in der Schule mehr taugte, der Bursche – aber da kommt er gerade klagend heraus und bezeichnet mit der einen Hand so deutlich den Ort seiner Schmerzen, daß es des mahnenden Magisters mit dem Rohrstock zur Aufklärung der Situation eigentlich gar nicht bedürfte. Und nun hat er wieder sein Geburtstagsgedicht nicht gelernt! Und wie furchtbar groß sind die Buchstaben auf dem Gratulationspapier! Und doch guckt der Junge einen dabei so verlegen an und zugleich so verschmitzt – na, komm her, wir wollen’s diesmal nicht so genau nehmen, dies eine einzige Mal will ich dir auch noch die schlechte Censur verzeihen! …

Goldene Kinderzeit, er hat dich wunderlieb geschildert, unser Richter – er hat dich freilich wohl nimmer anders angesehen, als wir die Kinder auf jenem tiefsinnigen Bilde „für’s Haus“ ansehen: du pflückst die Blumen von den Gräbern der Todten, du tanzest mit leichten Füßen über ihre Gruft und singst ihnen die Kunde hinab, daß das alte Menschengeschlecht noch immer in duftigen Blumen weiterblüht!

Der Knabe wird zum Jüngling, das Mägdlein zum Mädchen an der Hand unseres Seelenführers belauschen wir sie, wie sich erster Ernst in ihre Kinderspiele mischt. Wir sehen sie wachsen, wir fühlen’s, wie ihre Blicke die Welt, die sie umgiebt, tiefer in sich saugen, wir fühlen’s mit, wie ihnen endlich Mensch und Natur anders zu sprechen scheinen, als bisher, bis eine nette wonnigliche Welt in ihrem Innern der Welt dort draußen entgegenblüht. Wir sehen der Liebe Keimen und Gedeihen, bis wir das Paar auf blumenbestreutem Pfad an der Schwelle des eigenen Hauses finden:

„Gott mit mir,
Mein junges Herz mit dir,
Gott mit uns Beiden
In Trübsal und Freuden!“

Und was der Tag der Ehe bringt, vom Erwachen am Morgen, durch Arbeit zum behaglichen Frieden des Mittagsmahls im traulichen Kreise und wieder von des Tages Arbeit zu des Abends Gästen, und was die Jahre der Ehe bringen, Entbehrung und Besitz, Schmerz und Freude, Geburt und Tod – wer hat uns das Alles so liebevoll gezeigt, wie Richter? Und wie wir altern, bis uns die Haare ergrauen und dünner werden, bis uns zuletzt das Enkelchen mit dem Kamm neckend über die Glatze fährt, und wir ihm doch darum nicht böse sind, denn der Kleine ist ja auch ein Stückchen des Gedeihens um uns her, dem warmen Herzens zuzuschauen nun unsere einzige Freude ist – wer hat das Alles mit dem Stifte so innig nachgefühlt, als Vater Richter? Freilich, er zeigt uns auch des Alters Verlassenheit – es ist ein trübes Gedicht, der Alte dort am Ofen, dem aus dem Pfeifenqualm das Bild eines jungen liebenden Pärchens aufsteigt, des „Sonst“!

Aber Richter’s Welt ist größer, als diese eigentlichste Wiedergabe des Menschenschicksals. Ich sagte: sie umfaßt das ganze Herzensleben seines Volks. Und zu diesem gehört auch die Natur, wie sie sich im deutschen Gemüthe zeichnet: die Landschaft. Fachmänner haben oft genug hervorgehoben, wie ernste Studien, wie tüchtiges Können in Richter’s Landschaften steckt, auch wenn sie nur mit ein paar Linien als Hintergrund in seine Bilder gucken. Nie aber giebt sie uns Richter nur um ihrer selbst willen: sie sind ihm nur der Grundaccord zu dem gemalten Liede, das die Menschen, die sie beleben, singen. Freilich verherrlicht dieses Lied oft seinerseits die Natur. Wir folgen ihr in ihrem ganzen Kreislauf. Wie herzig ist dieser „Frühlings Einzug“, auf dem der kleine Karl mit der Posaune wie aus der Pistole geschossen den Engelsgeschwisterchen voranfliegt – er kann’s ja der Welt nicht schnell genug verkünden:

„Wach auf, wach auf zum Lichte, du nachtumhüllte Saat,
Sproßt aus in tausend Halmen, die Zeit des Maien naht!“

Und mit Blumen und Pfeifen und Liedern jubeln die geflügelten Cameraden hinter ihm her, daß drunten die Rehe die Ohren spitzen und die Vögel aus den Verstecken und die Blumen aus den Knospen lugen. Wie ernst sinnig ist dann wieder jenes Bild, das uns den blinden Bettler zeigt, dem der Lenz seine Blüthen in den Hut spielt. Und dann der Sommer und der Herbst! Seht nur auf Richter’s Bild zu dem köstlichen Psalm: „Du krönest das Jahr mit deiner Güte, und deine Steige triefen von Fett, es triefen die Anger der Weide, und deine Hügel schmücken sich mit Luft. Die Triften bekleiden sich mit Schafen und die Auen hüllen sich in Korn – sie jauchzen und singen.“ Wahrlich, wir jauchzen und singen mit, sehen wir den Jubel in diesen Sommerbildern! Und mit Richter in seinen Bildern begrüßen wir die Winterzeit als Zeit innerer Erhebung und inneren Ausbaues, bis uns die Sonnwend mit der Kunde vom Längerwerden der Tage naht, bis uns das echte rechte Wahrzeichen seines höchsten Festes für jeden Deutschen, der Weihnachtsbaum, entgegenstrahlt. Die Freude, die er beleuchtet, zu schildern, hat sich Richter in einer Reihe von Compositionen, die seinen allervollendetsten angehören, nicht genug thun können. Hier traf ja auch einmal Alles zusammen, was ihm das Heiligste war: Deutschthum, Familie, Poesie und Religion.

Religion – hier muß ein Vorzug bewundernd erwähnt werden, den Richter mit sehr, sehr wenigen der „frommen Maler“ aller Zeiten theilt: seine Auffassung der Religion rein als Sache des Gemüths. Nie, aber auch in keinem einzigen seiner Bilder stört uns etwas, wie Dogmenkram, oder dessen nothwendige Folge: Intoleranz, obgleich – und das ist das Merkwürdigste dabei – an rein confessionellen Zeichen und Symbolen kein Mangel ist. Wir sehen da der katholischen Priester in Meßgewändern, der Weihrauchfässer, Crurifixe, Rosenkränze genug, und doch – gilt Richter bei Tausenden seiner Verehrer, wohl nur, weil er im protestantischen Dresden lebt, für einen Protestanten. Das ist nur dadurch erklärlich, daß auch durch die religiösen Bilder Richter’s ein stärkerer Hauch ruhiger gesunder Menschlichkeit weht, als wir ihn bei streng-confessionellen Malern zu finden gewohnt sind.

Und eben das ist’s, was auch diese seiner Bilder selbst dem, der mit jedem Dogma längst gebrochen hat, warm in’s Herz reden läßt. Die innig frommen Menschen Richter’s sind eben doch Menschen – nicht asketische Abstractionen in Menschengestalt. „Aller Augen warten auf dich“ läßt er beten, aber ihm fällt’s nicht ein, darin, daß dies ein kleiner Kerl zunächst auf den Eßtopf bezieht, etwas Gottloses zu sehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_615.jpg&oldid=- (Version vom 27.9.2023)