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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

die Lippen fester zusammenschloß, und versenkte sich nun in den Anblick des Kranzes ihr gegenüber. Die frischen Farben wichen rasch von ihrer Wange, und bald rollte auch eine Thräne über dieselbe hinab auf die schwarze Busenschleife.

Nun hielt der Wagen vor der Pforte des altstädtischen Kirchhofs. Der Todtengräber und seine Frau, die in der Nähe arbeiteten, eilten herbei und waren sehr devot beim Aussteigen behülflich. Die Frau konnte gar nicht genug rühmen, wie schön das Wetter sei und wie hell der Sonnenschein, und wie sie sich freue, die Frau Consul bei gutem Wohlsein zu sehen. Und was noch die größte Neuigkeit sei: es habe sich eine Nachtigall eingefunden, die wunderschön schlage. „Das ist wohl dem jungen Herrn Berghen zu Ehren geschehen, liebes Fräulein,“ meinte sie.

Die Frau Consul tupfte mit dem Tuch die Augen.

„Er hört sie nicht mehr,“ sagte sie schwermüthig und seufzte tief. „Mein einziger Sohn!“

„Aber wir hören sie, Mamachen,“ suchte Helene zu trösten, und sind dankbar, „daß sie sein Grab aufgesucht hat, zu seinem Andenken mit ihrer süßen Stimme ihr Lied zu singen. Sie mahnt uns, daß die Welt auch über Gräbern schön ist und die Natur ein ewiges Auferstehungsfest feiert. Wir sollen durch die Trauer um das Verlorene nicht unsern Sinn dagegen verhärten.“

Die alte Dame schien wenig damit einverstanden.

„Es ist doch unser bester Trost,“ entgegnete sie mit einiger Schärfe, „daß wir den Lieben, die uns vorangegangen sind, bald nachfolgen. In ihnen leben wir.“

Helene wendete ihr rasch das Gesicht zu, als ob sie lebhaft antworten wollte, besann sich aber eines Anderen und senke den Blick zur Erde. Wie sie bedenklich das Köpfchen auf- und abbewegte, konnte man erraten, daß der Gegenstand sie noch weiter beschäftigte und nur die Rücksicht auf die Matrone ihr Schweigen aufnöthigte.

Der Diener trug den Kranz und das Blumenkörbchen nach. Jetzt, in der Nähe eines Eisengitters von schöner Arbeit, nahm das Fräulein ihm die Sachen ab und gab ihm einen Wink zurückzubleiben. Die Frau des Todtengräbers öffnete die schwere Thür und entfernte sich dann ebenfalls. Die beiden Damen traten in den inneren Raum. Er war sehr sauber gehalten, rundum mit frischen Tannen ausgelegt. Links in dem Gartenbeet lag eine Steinplatte, deren Inschrift kündete, daß darunter der Consul Philipp Berghen ruhe: vor etwa vier Jahren war er verstorben, wenig über fünfzig Jahre alt. Daneben rechts erhob sich ein Postament aus Granit, das eine weibliche Figur von Marmor trug, einen Engel mit gesenkten Flügeln und Palmenzweig. In die vordere Wand war ein Portrait-Medaillon von Marmor eingelassen. Es zeigte den Profilkopf eines noch sehr jungen Mannes, unverkennbar der alten Dame ähnlich. Darunter stand nur der Name „Robert“. Das Mounment war von Topfgewächsen umstellt, Kränze hingen auf den Ecken der Platte.

Die Beiden standen eine Weile und schauten schweigend darauf hin. Das geschah so jedesmal bei diesen Besuchen. Sie sprachen vermutlich ein stilles Gebet, denn die Frau Consul sagte „Amen“, und gab damit das Zeichen, daß sie in ihrer Andacht nicht weiter gestört werde. Sie selbst begann das Gespräch mit einem Lobe der Tugenden ihres verstorbenen Sohnes und erzählte aus seiner Kindheit, wie klug und gutherzig zugleich er gewesen sei, in Vielem seitnem trefflichen Vater ähnlich, aber noch geistig belebter und heiterer. Man hatte dieselben Dinge schon so oft durchgesprochen und kam doch nicht damit zu Ende. Darauf wurden mit einer zierlichen Harke die trockenen Blumen rings um den Steig fortgeschafft und frische Blumen aus dem Körbchen an die Stelle gestreut. Der Kranz fand seinen Platz auf dem Grabe des Consuls, der doch nicht ganz leer ausgehen durfte.

Damit war der Kreis dieser Liebespflichten erfüllt. Diesmal aber schien sich die alte Dame damit nicht begnügen zu wollen. Sie setzte sich auf das eiseene Sprossenbänkchen gegenüber den Monumenten und lud Helene ein, ihrem Beispiele zu folgen.

„Man ist hier recht geschützt gegen den Wind,“ sagte sie, „und die Sonne bedenkt uns freundlich. Sitzen wir noch ein Weilchen.“

Helene leistete sogleich Folge, blickte nun aber neugierig durch die Stäbe des Gitters nach andern Kirchhofsbesuchern aus oder in die erst halbbelaubten Kronen der alten Linden hinein, deren Geäste der Spielplatz der munteren Vögel war.

„Woran denkst Du, Helenchen?“ fragte nach einer kleinen Weile die alte Dame.

„An nichts, Mamachen,“ antwortete das Fräulein ganz unbefangen.

„Das ist aber doch nicht recht,“ verwies jene. „Man darf sich nicht überall durch die Außendinge zerstreuen lassen; es giebt Orte, die uns auffordern, unsere Gedanken zusammenzuhalten. Ich meine, an einem solchen befinden wir uns.“

„Gewiß!“ entgegnete Helene, das Köpfchen traurig senkend. „Aber wir sollten uns doch nicht zwingen, Empfindungen in uns über ihre natürliche Dauer hinaus zu verlängern. Es kommt mir das immer wie eine Unwahrheit gegen sich selbst vor.“

Die alte Dame wiegte den Kopf.

„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte sie. „Wie kann da von Zwang die Rede sein, liebes Kind? Wir sitzen hier am Grabe meines einzigen Sohnes und Deines Bräutigams. Können da andere Empfindungen in uns lebendig sein, als die der Liebe und der Trauer über den unersetzlichen Verlust?“

„Aber ich habe nicht so stark, wie Du, das Bedürfniß, sie in mir durch die Betrachtung der Ruhestelle des lieben Todten erwecken zu lassen,“ wendete das Mädchen schüchtern ein. „Ich stehe immer und überall unter ihrer Herrschaft – einen leidenschaftlichen Ansturm wehre ich nicht ab, reize mich aber auch nicht dazu. Brauche ich mir denn vorzuhalten, was ich verloren habe? Kann es einen schmerzlicheren Verlust geben als den meinigen? Aber man muß ja doch das Leben ertragen und der Gewohnheit ihr Recht lassen. Sind doch bereits zwei Jahre darüber hingegangen, seit wir hier an dem offenen Grabe standen.“

Die Frau Consul nickte.

„Zwei Jahre - ja, ja! Aber zählt man da nach Tagen und Jahren? Darf man der Zeit erlauben, unser Gefühl abzustumpfen? Weil’s in der Welt gemeinhin so zugeht, daß man den schwersten Kummer überwindet, muß man da nicht um so ängstlicher über sich selbst wachen, daß man die Erinnerung in sich stark erhält für das ganze Leben?“ Sie nahm die Hand des Mädchens in die ihrige und streichelte sie zärtlich. „Ich weiß,“ fuhr sie fort, „Du hast Robert geliebt und kannst keinen Menschen mehr lieben, wie ihn. Aber es hat manchmal den Anschein … wie soll ich’s sagen? als ob Du Dich schon gelassener in die Nothwendigkeit fügst, den Kummer, ihn verloren zu haben, tragen zu müssen – als ob Du gleichgültiger an die Zeit zurückdenkst, wo er Dir gehörte. Das tut mir weh. Ich habe mir schon lange vorgenommen, mit Dir darüber ein mütterlich-ernstes Wort zu sprechen. Beruhige mich, wenn Du kannst.“

Das Mädchen bückte sich rasch und küßte ihre Hand.

„Du siehst es so an,“ sagte sie bewegt, „und – bist die Mutter. Ich werde Dich nicht überzeugen können, daß Du Unrecht hast, und doch kann ich mir keine Schuld geben. Du hast das schöne Talent, Dir den Tag einteilen zu können nach seinen mancherlei Bedürfnissen. Diese Stunden sind Deinen Töchtern, diese Deiner Wirthschaft, diese Deiner Vereinsthätigkeit, diese Deinen gesellschaftlichen Pflichten oder der Lectüre bestimmt – und dann hast Du auch eine, die ganz und voll der Erinnerung an Deinen Sohn geweiht ist. Du gehst zu ihm, wie Du in die Kirche gehst, und Du gehst von ihm wie aus der Kirche: mit ganz befriedigtem Gemüth. Ich kann mir’s nicht so geben. Ich bin immer im Ganzen; was meinen inwendigen Menschen beeinflußt, das giebt ihm mehr eine allgemeine Stimmung, jede Stunde nimmt gleichmäßiger daran Theil. Besinnst Du Dich wohl? Als Robert noch lebte – hast Du mir da nicht manchmal den Vorwurf gemacht, daß ich in seiner Gegenwart nicht merklich genug froh werde, daß ich zu wenig zärtlich, zu kühl für eine glückliche Braut erscheine? Ich konnte aber nur mein Glückgefühl nicht aufsparen für die Stunde des Beisammenseins; ich empfand es immer mit gleicher Stärke und vermochte es dann kaum noch zu steigern, wenn es sich nach Dritter Erwartung beweisen sollte. So ist’s auch im Leid. Es verläßt mich nie ganz, es hat aber auch nicht seine vorbestimmte Stunde.“

Die alte Dame zog sie an sich und küßte ihre Stirn.

„Ich will überzeugt sein,“ sagte sie, „daß Du ihn noch immer liebst, wie Du ihn geliebt hast, daß Du ihm in Ewigkeit nicht untreu werden kannst. Versprich mir an seinem Grabe, daß Du seine Braut bleiben willst, so lange Dein Herz schlägt, und ich werde ganz beruhigt sein, nie eine geliebte Tochter zu verlieren.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_642.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2023)