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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

der menschliche Organismus unterliegt denselben Bedingungen und die liebevolle Mühe, ein Kind gesund zu erhalten, ist im Herzen dortiger Frauen nicht minder lebendig. Man spricht nur zu einer unbekannten, ungezählten Gemeinde, in einem unermeßlichen Auditorium, dessen gewölbte Decke der Sternenhimmel ist, und doch im Grunde nur zu des Kindes Mutter, zu der sorglichen Schwester desselben, zu seiner mütterlichen Freundin oder treuen Pflegerin – kurz zur ‚Frau‘!

Soll ich eine sehr gelehrte Miene annehmen? Soll ich Ihnen eine systematische, gründliche Abhandlung schreiben? Nein! Erschrecken Sie nicht! Ich will lieber verständlich auch für die ‚Nicht-Aerztin‘ sein und mich noch rechtzeitig daran erinnern, daß die Gesundheits- und Krankenpflege volksthümliche Verbreitung finden müssen, wenn sie dem Volke nützen, in Fleisch und Blut desselben übergehen sollen. Allerdings ist, und zwar mit Recht, das Popularisiren theoretischer Wissenschaften bei Fachmännern verpönt, denn es erzeugt Verwirrung, Halbwissen, Selbstüberhebung. Hingegen ist es, wie jeder Vernünftige zugeben muß, Pflicht, die Kenntniß dessen zu verbreiten, was dazu dienen kann, das Erkranken zu verhüten, rechtzeitig zu erkennen und correct zu beobachten.

Vermeidet man dabei, zu sehr in’s Einzelne zu gehen und den Laien zu selbstständigen Diagnosen bestimmter Krankheitsformen, zum eigenmächtigen Eingreifen zu verleiten – dann bleibt man in den Grenzen, welche eingehalten werden müssen, um die Erkenntniß nicht zu einem zweischneidigen Schwerte werden zu lassen.

Folgen Sie mir im Geiste in die Kinderstube eines wohlgeordneten Hausstandes. An einer schattigen Stelle vor dem Fenster ist ein Thermometer befestigt, und die sorgliche Mutter wirft des Morgens, ehe die größeren Kinder zur Schule gehen, die kleineren angekleidet werden, einen prüfenden Blick auf dasselbe. In Verbindung mit der Windrichtung, die sich nach dem Fluge des Rauches gegenüber befindlicher Schornsteine (gute Windfahnen mit feststehender Angabe der Himmelsgegend sind leider Seltenheiten) zu beurtheilen gelernt hat, weiß sie jetzt, daß ein Ostwind weht und daß heute nur 6° R. sind.

Sie kleidet die Kinder dem entsprechend, ermahnt das Eine, auf dem Schulwege den Mund hübsch zuzuhalten, und läßt das Andere, das etwas empfindlich ist, erst Mittags in’s Freie, wo einige Grade mehr in der Luft sind. Im Hochsommer wird sie, wenn das Quecksilber schon Vormittags eine ungewöhnliche Höhe erreicht hat, die Kleinen, um sie vor Sonnenstich zu schützen, erst bei beginnender Abendkühle wieder hinauslassen. Tritt ein greller Temperaturwechsel ein – und ein solcher ist oft viel gefährlicher als anhaltend hohe oder niedere Temperatur – dann wird es ihr Auge nach eher gewahr als ihr Gefühl. Der treue Warner, das Thermometer, spricht eine stille, aber bestimmte Sprache, seine Zahlen reden, und wer sie beachtet, schützt sich, vor Allem aber die viel empfindlicheren Kinder, vor manchem Ungemach. Und nicht blos zu Haus, auch auf Reisen ist es ein guter Berather, zumal auf Bergen oder an der See, wo Wärme und Kälte oft unerwartet schnell sich ablösen.

Sehen wir uns jetzt in der Kinderstube um! Da hängt an der Wand das Badethermometer in seiner bekannten Holzhülse. Es ist jetzt gerade ‚außer Diensten‘, das heißt es versieht gegenwärtig – wie zum eigenen Vergnügen die Stelle eines Stubenthermometers. Wir haben einen kalten Wintermorgen, das Thermometer verkündet uns, daß, nachdem das abendliche Feuer im Ofen längst erloschen, die normale Temperatur (15 bis 16° R.) bei weitem nicht mehr vorhanden ist. Die Zimmerluft ist 10 bis 11°, also für das Kleine dort in der Wiege zu empfindlich, selbst für das Größere mit seinem Katarrh. Rasch ‚etwas‘ heizen. Es giebt dienstbare Geister, zumal vom Lande, welche diesem ‚etwas‘ eine große Ausdehnung geben; ihre dicke Haut, ihr mangelhaftes Urtheil und ungeschultes Gefühl läßt sie nie dazu kommen, kalt, kühl, lau, warm und heiß richtig zu unterscheiden. Nach einer Stunde betritt die Mutter wieder den Raum. Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen. ‚Zwanzig Grad!‘ ruft sie aus und macht sich daran, den Fehler der Ueberheizung durch Oeffnen eines Nebenzimmers wieder auszugleichen.

Ein Kind hat kühle Händchen und Füßchen – die Mutter sieht, daß die Temperatur des Zimmers zu niedrig ist. Ein Kind hat Fieberhitze, und der Arzt hat kühles Verhalten angeordnet; eine kurze Beobachtung des Thermometers und die Mutter kühlt die von der Sonne schon zu sehr erwärmte Stube durch Sprengen, durch aufgehängte nasse Laken u. dergl. m. ab, schließt die Jalousien und erniedrigt die Temperatur um 2° R., eine Mühe, die sich rasch lohnt, indem das bis dahin unruhige Kind in einen sanften Schlummer sinkt. Bald ist es am Ofen zu heiß, am Fenster zu kalt – das Thermometer giebt zuverlässige Auskunft und lehrt, sich nicht mit unbestimmten Vorstellungen zu begnügen.

Jetzt naht die Badestunde. Das Thermometer wandert in die beretts halb gefüllte Badewanne, und während noch kaltes oder warmes Wasser zugegossen wird, bewegt man es, um die wärmeren und kälteren Partien des Wassers besser zu mischen, hin und her, zeitweilig den Stand des Quecksilbers beobachtend. Sie wissen, geehrte Frau, wie verschieden warm die Kinder zu baden gewöhnt sind oder von Jugend auf zu baden gewöhnt werden, wissen aber auch, daß man nicht über 28° R. hinausgeht, auch wohl für gewöhnlich nicht unter 26° R. abwärts. Diese Grenzen durch bloßes Schätzen mit dem Ellbogen (dem üblichen Thermometer mancher Kinderwärterinnen) oder mit der Hand zu bestimmen, ist wenig zuverlässig, ja kaum möglich.

Eine gewissenlose Kinderfrau, die vom Thermometer nichts verstand, soll auf die Frage, woran sie erkenne, ob das Bad zu heiß oder zu kalt sei, die Antwort gegeben haben: ‚Wird das Kind roth, so ist das Bad zu heiß, wird es blau, so ist das Bad zu kalt.‘

Wenn das auch nur ein grausamer Scherz ist, so ist er doch aus dem Leben gegriffen.

Vor einer Reihe von Jahren starben in der Praxis einer bestimmten Hebamme einer ostdeutschen Stadt zahlreiche Kinder: sie erlagen einer Art Starrkrampf. Die räthselhafte Epidemie wurde erst durch die Medicinalbehörde aufgeklärt, deren Nachforschung der Nachweis gelang, daß die Frau die Neugeborenen ohne Badethermometer, nach bloßer Abschätzung der Badewärme, viel zu heiß gebadet hatte.

Oft genug kommt in einzelnen Fällen Aehnliches vor. Zumal aber eignet sich nicht für jedes Kind ein und dieselbe Temperatur des Bades; ein blutarmes, schwächliches wird nicht so kühles Wasser vertragen, wie ein vollsaftiges, robustes Kind, dem dies wohltuend und angenehm ist. Und wie sollte man die ärztlichen Verordnungen bezüglich der Badewärme, der abkühlenden Bäder bei Fieber befolgen, ohne die Grade genau abmessen zu können? Nur Zahlen sind hier maßgebend und beweisend, nur sie geben die Bürgschaft exacten Handelns.

Ich sehe Sie im Geiste verständnißinnig lächeln; denn jetzt taucht vor Ihnen die Erinnerung auf an die schweren, zum Glück nun gut verlaufenen Tage, in denen Sie sich so rasch die Fiebermessung angeeignet und mit dem Krankenthermometer vertraut gemacht haben. Dieses, ein feiner gearbeitetes Thermometer, ist nach Celsius in 100° (vom Null- bis zum Siedepunkte) eingeteilt; da jedoch die Körpertemperatur, auf deren Messung es in diesem Falle nur ankommt, selbst in krankhaften Zuständen nicht unter 33,5° C. zu sinken und nicht über 42,0° C. zu steigen pflegt, so ist beim Krankenthermometer alles, was unter und über diesen Grenzen ist, im Grunde unnötig. Deshalb sehen Sie eben gerade diesen Theil der Scala sorgfältig ausgeführt und jeden Grad noch in Zehntel eingeteilt. Denn bei Messungen von solcher Bedeutung kommt es auf Bruchteile eines Grades an, die man entsprechend dem Stande der dünnen, feinen Quecksilbersäule entweder mit bloßem Auge oder mit einer Loupe ablesen muß.

Nicht jedes Krankenthermometer, welches man in einem Geschäft kauft, ist excact genug gearbeitet. Erkundigen Sie sich deshalb bei Ihrem Hausarzt nach einer Quelle besonders zuverlässiger Instrumente und lassen Sie, wenn Sie besonders sicher gehen wollen, das gewählte Thermometer noch controlliren. Das eine geht vielleicht 2/10 Grad zu hoch, das andere 3/10 zu tief, ein anderes bedarf in seiner oberen, das andere in seiner unteren Partie einer Correctur, die Sie sich dann auf das Glas mit einritzen lassen. Diese Differenz bei jedem Befund mit zu- oder abzurechnen, ist kinderleicht und giebt Ihren Beobachtungen den Werth größter Genauigkeit. Aber auch ohne diese Vorsichtsmaßregel wird es immer schon verdienstlich sein, ein Thermometer aus guter Werkstatt gut benutzen zu lernen, und das Instrument genügt (nach Jürgensen), wenn es bei wiederholter Messung der Achselhöhlentemperatur bei einer gesunden Person, eine Stunde nach dem Frühstück, ungefähr 37,0 zeigt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_655.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)