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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

in die Rumpelkammer gerieth. Beide Brüder waren zu jener Zeit bereits von der Idee erfüllt, einen mechanischen Webstuhl zu erfinden, einen Webstuhl, der nicht nur das Mechanische der Weberei verrichten sollte, wie es etwa bei Herstellung von Shirtings, Kattun, Leinwand, Tibets etc. allein zur Geltung kommt, nein, er sollte auch die Handwerksvortheile des lebenden Webers wahrnehmen und sich aneignen, sie wollten mit ihrem Webstuhl mehr einen mechanischen Kunstweber herstellen, dem auch die Erzeugung der complicirteren Stoffe möglich wäre. Dazu brauchte es größerer Mittel, welche die Brüder nicht besaßen; sie theilten darum ihr Project einem russischen Edelmann mit, und mit erstaunlicher Schnelle sandte die russische Regierung den Brüdern 2000 Thaler nach Dresden, wofür sie denn auch pflichtschuldigst einen mechanischen Webstuhl für Handbetrieb erfanden, der 200 Schuß in der Minute bewirkte.

Der Erfolg war ein glänzender, der Stuhl erregte Aufsehen, und sicher wären beide Brüder über die Weichsel in das Land des weißen Czaren gegangen, doch machte man ihnen bang vor der grassirenden russischen Knute. Es ist ja gewiß auch nicht sehr angenehm, ein solches häßliches Ding als Antrieb zu neuen Erfindungen im Hintergrund zu wissen. Die sächsische Regierung, die von dieser Furcht nicht unterrichtet war, wollte sich die emsigen, anspruchslosen und doch so genialen Männer im Lande erhalten, sie gewährte dem Aelteren eine kleine Jahrespension und ermöglichte dem Jüngeren den Besuch des eben erst begründeten Dresdener Polytechnicums. Das war eitle rühmenswerte, segensreiche That. Ohne dieselbe hätten die Brüder ihren Abscheu vor der Knute wahrscheinlich doch noch überwunden, und damit wäre Deutschland um zwei Erfinder ärmer geworden und Sachsen um eine blühende Großindustrie gekommen.

Jetzt waren die Noth-, Sturm- und Drangjahre beendet und es folgt die Vervollkommnung der Erfindung und ihre fabrikmäßige Herstellung.

Eine längere Reihe von Jahren wird am besten übersprungen. Leider fand Louis Schönherr erst 1851 einen Capitalisten Namens Seidler, der den „unerhörten“ Muth hatte, 7000 Thaler für die neue Erfindung in die Schanze zu schlagen. Die ersten Anlagen waren so unglaublich primitiver Natur gewesen, daß ein Aufblühen der jungen Webstuhlfabrik ganz unmöglich erschien, jetzt aber konnte man doch nothdürftig Hülfsmaschinen beschaffen. Im Anfang behalf man sich mit Miethlocalen, später erkaufte man die vormalige sächsische Maschinenbau-Anstalt, die wir bereits kennen, da Louis Schönherr seine Maschinenbauercarriêre hier als Drehjunge begonnen.

Jetzt trat die Zeit der rapiden Entwicklung ein. 1859 ward Schönherr durch den Austritt Seidler’s Alleinherrscher in seinem Reich, 10 Jahre später waren seine Mannen bereits auf 600 Köpfe angewachsen, 1872 kam die landesübliche Umwandlung in ein Actienunternehmen, das vermehrte Capital ermöglichte bedeutende Erweiterungen, doch änderte sich sonst nichts in der Leitung. Gegenwärtig ist man nahe daran, den 22,000sten Webstuhl in die Welt hinauszuschicken und diese 22,000 Webstühle weben so ziemlich in der ganzen Welt am Ruhm deutschen Erfindungsgeistes, deutschen Fleißes und deutscher Solidität.

Die wirthschaftliche Bedeutung dieser Ziffer ist eine ganz außerordentliche, denn sie umfaßt nur schwere Webstühle für Tuche, Buckskins, Segelleinen und ähnliche schwere Stoffe. In Cottbus allein gehen über 4000 Schönherr’sche Buckskinstühle, mit Luckenwalde, Forst und Spremberg steigt die Zahl auf über 4000; sie bilden auch im Ausland die Grundlage für den Erwerb großer Industriebezirke, und dabei sind diejenigen Schönherr-Stühle ganz außer Betracht gelassen, die im In- und Ausland gegen Patentprämie in großer Zahl gebaut worden sind.

Es hat einige Schwierigkeiten, das Hauptverdienst Schönherr’s als Erfinder und Constructeur zum allgemeinen Verständniß zu bringen; man müßte auf die subtilsten Mechanismen eingehen und könnte ebenso gut die höhere Mathematik zum Gegenstand einer populären Abhandlung wählen, aber in der Haupttendenz seiner Erfindung spiegelt sich gleichzeitig auch sein Hauptverdienst. Ihm genügte es nicht, die rein mechanischen Verrichtungen der Weberei den Menschen abzunehmen, er wollte, wie schon früher angedeutet wurde, die Individualität des guten Handwebers auf die mechanische Weberei übertragen, er wollte die Handwerksvortheile in derselben nicht entbehren.

Der Handweber giebt mit der Weberlade seine Schläge, mit denen er den Schußfaden an die Kettenfaden festschlägt, in grundverschiedener Stärke, je nachdem die tausendfach verschiedenen Stoffe es verlangen; er giebt oft zwei, auch drei Schläge von wechselnder Stärke für jeden Faden, und man sollte meinen, nichts sei leichter, als diese Schläge mechanisch nachzuahmen, und doch ist ganz das Gegentheil der Fall. Es sind eben nach einem bestimmten Gefühl des Webers abgemessene elastische Schläge, die dann unter Umständen ein so weiches, sammetartiges Tuch herstellen. Schönherr hat in seinem Stuhl, im Gegensatz zu allen anderen existirenden mechanischen Stühlen, diese elastischen einfachen oder doppelten Schläge erzielt durch ein System von Excentern, dies sind ungleiche Scheiben, welche den Anschlag durch einen an sich sehr einfachen Mechanismus vermitteln, und diese Anordnung bedingte eben eine ganz eigenartige Construction des übrigen Mechanismus am Schönherr’schen Webstuhl.

Der Erfinder hat demnach erreicht, was er wollte, er hat dem guten Handweber die feinsten Handwerksvortheile abgelauscht, während der schlechte nicht mehr in Frage kommen kann. Die Tuche, wie sie der Schönherr’sche Webstuhl zu liefern vermag, erinnern in ihrer sammetartigen Derbheit an jene ehrwürdigen Zeiten, da der Enkel des Großvaters Rock trug, wenn er zur Confirmation schritt. Bei den jetzt gebräuchlichen lockeren modernen Stoffen sind solche langjährige Umwandlungen freilich unmöglich geworden, und nur diese vergängliche Mode hat in neuerer Zeit dem leichter gebauten, leichter arbeitenden amerikanischen Kurbelwebstuhl auch in Deutschland Eingang verschafft, ohne gerade dem Schönherr’schen Abbruch zu thun. Uebrigens baut die Fabrik, um dem Geschmack der Neuzeit Rechnung zu tragen, auch solche Kurbelwebstühle, die in den Schönherr’schen Werkstätten wesentlich verbessert worden sind.

Neue Errungenschaften sind die Einrichtung des Schönherr-Stuhles auf leinene Damaste, die bisher eine Domäne des Handwebers geblieben waren, aber sich freilich auch für ihn nicht sehr ergiebig zeigten. Dieser Stuhl liefert die bekannten prächtigen großen Muster in viel größerer Mannigfaltigkeit als der Handstuhl; man wird nunmehr bald auch in minder bemittelten Familien diese herrlichen Leinendamaste aufdecken können, weil die fabrikmäßige Herstellung dieselben zweifellos sehr verbilligen wird.

Die vielen kleineren Erfindungen und Verbesserungen können hier nicht aufgezählt werden.

Daß in einer Fabrik, in welcher so viel erfunden und verbessert wurde, die eisernste Solidität in der Ausführung eiserne Regel ist, kann als selbstverständlich angenommen werden, erwähnt sei nur, daß jedes Lager ohne Ausnahme mit Edelmetall ausgefüttert wird.

Zu einem Gang durch die Fabrik will ich meine Leser nicht einladen; es giebt keine interessanten Processe zu beschreiben, wie etwa in Hütten, Spinnereien u. dergl. Wir sehen wohl, wie die Tausende von Theilen und Theilchen auf den besten Hülfsmaschinen hergestellt werden, aber keine der Arbeiten kann auf ein besonders hervorragendes Interesse Anspruch erheben. In den Montirsälen stießen die Massen von Wellen und Wellchen, Rädern und Räderchen, die Bäume, die Schützen und Gott weiß was für mögliche und schier unmögliche Excenter, Wangen, Schienen und sonstige Theile zusammen, und das Zusammen kann wohl das Auge direct fesseln, aber für eine Vermittelung durch die Feder ist der Bau eines Webstuhls, wie dieser selbst, zu complicirt.

Herzlich erfreut war ich über einen seltenen Umstand: die Schönherr’sche Fabrik ist durch und durch eine deutsche. Hier giebt es keine fremden Patente, keine englischen Werkmeister, und von den 291 Hülfsmaschinen sind nur 10 ältere ausländischen Ursprungs, man verschmilzt jetzt in der Hauptsache nur deutsches Eisen, und die 750 Arbeiter hämmern, feilen und drehen nur mit deutschen Werkzeugen.

In der großartigen Tischlerei von 123 Meter Länge und 27 Meter Breite arbeiten 24 große Holzbearbeitungsmaschinen von mammuthartigen Dimensionen. Man stellt hier zuweilen Weberbäume her, die der Größe nach eigentlich in die Vorwelt gehören. Letzthin verließ ein Webstuhl die Fabrik, auf welchem 7 Meter breites Segelleinen gewebt werden soll, das ist jedenfalls der Goliath unter allen Webstühlen.

Die kolossalen Holzlager und die Dampfschneidemühle seien nur erwähnt. Für Eisenbearbeitung sind 267 Maschinen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_690.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)